Westflügel Leipzig: "Twist it! Figur und Tanz"
Der sprechende Titel vermittelt sofort, worum es in der neuen Veranstaltungsreihe des Westflügel Leipzig geht: „Twist it!“ lautet die Aufforderung und Einladung des internationalen Produktionszentrums für Figurentheater und verweist dabei unmittelbar auf die dem Genre eingeschriebene Verflechtung mit anderen Künsten. Fünf internationale Produktionen loten in dieser ersten Ausgabe das Verhältnis von Figurentheater und Tanz auf vielfältige Weise aus und laden dazu ein, mit der spezifischen „Brille“, die das Festivalmotto seinem Publikum anbietet, einen besonderen Blick auf neue oder auch bereits bekannte Spielweisen, Bewegungsformen und Inszenierungen zu werfen. Praxisworkshops und Dialogformate vertiefen die theoretische Auseinandersetzung mit Figurentheater und Tanz, indem nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden beider Genres gefragt wird.
Eine der eingeladenen Produktionen ist Mossoux-Bontés Inszenierung “Les Arrière-Mondes“. Darin begibt sich die Compagnie auf eine verstörende Reise durch Raum und Zeit. Zwischen schwarzen Gaze-Vorhängen, die den Eindruck unendlich tiefer Gänge erzeugen, bewegen sich sechs Tänzer:innen zu dissonanten Barockklängen über rhythmische Technobeats bis hin zu ohrenbetäubendem Industrialsound. Das Verhältnis zwischen Gruppe und Individuum physisch auslotend spielt die Inszenierung mit figurentheatralen Mitteln der Verbindung und Fragmentierung körperlicher Einheiten. Mehrere Hände suchen spinnengleich ein Gesicht zu erfassen, identisch gekleidete Zwillinge befragen Setzungen von gleich und anders, pointiert ausgeleuchtet verschwindet der Körper eines Tänzers hinter einem aus dem Schwarz hervorleuchtenden Gesicht, das sich oszillierend zur Fratze verzieht.
"Les Arrière-Mondes" (c) Julien Lambert
Dabei ergibt sich die spezifische Figürlichkeit der Tänzer:innen besonders aus den überbordenden, Körperform und Bewegungsrepertoire maßgeblich beeinflussenden Kostümierungen, die von Szene zu Szene variieren und mitunter Gesichtsmasken, meterlange Stoffe und Formen der Körpererweiterungen und Perücken nutzen. Rhythmisch und tänzerisch mit meisterhafter Präzision erarbeitet ruft die Inszenierung eine Fülle von Assoziationen hervor, die wie ein Ritt durch die menschliche Kulturgeschichte erscheint und dabei ganz allgemeine menschliche Ängste und Endzeitgefühle verhandelt.
Die Verbindung von Tanz und Figurentheater auf ganz andere Weise auslotend, widmet sich „I am not in a room” des Figurentheaters Wilde & Vogel und der Tanz-Company Of(f) Verticality dem poetischen Werk Emily Dickinsons (1830-1886). Beinahe ausschließlich posthum veröffentlicht, entstand das umfangreiche und inhaltlich weit umspannende Werk der US-amerikanischen Dichterin auf allerengstem Raum in ihrem Elternhaus in Amhurst, das sie zeitlebens kaum verließ. Isolation und Naturverbundenheit, Glaube und die Suche nach dem Göttlichen in allen Mitwesen, Mensch, Tier und Materie sowie eine zutiefst empfindsame Sprache lassen Dickinsons Gedichte als Verbindungspfade zur Welt erscheinen, die die Künstler:innen auf der Bühne zu figurentheatral-tänzerischen Miniaturen entwickeln. Dabei stehen Musik (Charlotte Wilde), Figurenspiel (Michael Vogel) und Tanz (Kai Chun Chuang) als eigenständige Elemente auf der Bühne nebeneinander, die immer wieder ästhetisch und spielerisch miteinander verflochten werden. Ein Blumenrock wird zur tänzerischen Landschaft und greift den Inhalt der Gedichte auf. Die Schatten lang- und vielbeiniger Fadenpuppen vervielfältigen und vergrößern sich im Scheinwerferlicht an den Wänden des ehemaligen Ballsaals im Westflügel, um dann vom Tänzerkörper übernommen zu werden.
"I am not in a room" (c) Dana Ersing
Die live erzeugten und geloopten Klänge und Stimmfragmente überlagern sich, werden zum Ausgangspunkt für Bewegung und betten diese wiederum ein. Auf einem Hocker gespannt wird ein Faden zum Musikinstrument, bilden zwei Drähte eine Figur, ein Faden durchspannt die Bühnenbreite und addiert den Raum, während eine einseitig verdickte Glasscheibe die Sequenz vor dem Auge des Tänzers vergrößert. „Was ist Theater?“, fragt die aufs Minimum reduzierte Szenerie und eröffnet mit Dickinsons Zeilen „I am alive“, die dem Abend programmatisch vorsteht und „I am not in a room“ immer neue Perspektiven möglichen Lebens und Kunstschaffens.
Auch für Chiara Marcheses Inszenierung „Le poids de l’âme“, die sich zwischen Zirkus, Puppenspiel, Bildender Kunst und Schauspiel bewegt, ist die Suche nach möglichen Lebensformen das zentrale Movens. In schmerzhafter Auseinandersetzung mit biografischem Material, der Thematisierung von psychischen Erkrankungen und Isolation zeigt sich die Arbeit als Recherche rund um das Scheitern. Zentral ist dabei der schnelle Wechsel zwischen verstörenden Bildern – wir sehen eine Frau auf wackeligen Stöckelschuhen mit einer Handtasche voll leerer Tablettenpackungen, deren verzweifeltes Lächeln im anschwellenden Babygeschrei immer breiter wird – und clownesken Wendungen, die den Selbstmordversuch zum Zirkusgag werden lassen.
"Le poids de l'âme" (c) Emiliano Pino
Multilingual und ortsentgrenzt lässt die Performerin keine Möglichkeit des Werdens unerprobt. Sie sucht Liebe und Verschmelzung mit einer Drahtpuppe, die dem nackten Spielerinnenkörper anverwandelt wird, balanciert auf Schnüren, die eine Art Zwischenraum der Bühne erzeugen, nutzt ihren Körper als Musikinstrument und Projektionsfläche gesellschaftlicher Zuschreibungen und lässt ihn immer wieder zum Ort des Weitermachens werden, wenn in einem letzten Kraftakt die papierdünnen White-Cube-Wände eingerissen werden.
Vielfältige Herangehensweisen, unterschiedliche Themen und Kunstverständnisse sind es, die "Twist it!" vorstellt und durch die gemeinsame Programmierung im Festivalformat zu einer Suche nach möglichen Schnittstellen und produktiver Betrachtung unter der Perspektive Figur und Tanz einlädt. Dabei kristallisiert sich besonders die Auseinandersetzung mit Raum als zentrales Moment, das für die spezifische Verbindung für Figurentheater und Tanz maßgeblich scheint. Die Verhandlung von Raum als theatrale Konstellation sowie Ort und Bedingung künstlerischen Schaffens wird hier unterschiedlich geführt: Bei Mossoux-Bonté als Black Box zeitloser (Un)Tiefe – um auch Jan Jedenaks neuste Produktion miteinzubeziehen –, die Kreaturen aller möglicher Hinter-Welten entstehen lässt, bei Wilde & Vogel und Of(f) Verticality wird Raum zur Expansion von Gedanken und Potenzialen, die den begrenzten Ort um ein Vielfaches übersteigen und entgrenzen, wohingegen Chiara Marchese den Weg umgekehrt ins Innerste führt, um Möglichkeiten des (Über-)Lebens zu erproben.
Zum anderen regt "Twist it!" dazu an, die Kunstformen ineinander zu suchen und zu sehen. Welche Figuren ruft tänzerische Bewegung auf? Wie tänzerisch kann Animation erfolgen? Wo überschneiden sich Tanz und Figurentheater, wo bereichern die Kunstformen einander, gehen produktive Verbindungen ein? Die Perspektive Figur und Tanz lenkt den Fokus immer wieder auf die Bewegung, das Prozesshafte, das Geschehen, ein Augenmerk, das Figurentheater und Tanz entscheidend verbindet.
Man darf gespannt sein, wohin die Reise der Verflechtungen geht und welche Verbindungen in folgenden Ausgaben von Twist it! fokussiert werden, wenn zeitgenössisches Figurentheater seinen eigenen Standpunkt und seine interdisziplinären Bezugspunkte befragt und sein Publikum zu einem schrägen, neuen Blick auf das vermeintlich Bekannte einlädt.
---
Cie. Mossoux-Bonté [BE]: Les Arrière-Mondes
Concept: Patrick Bonté | Direction and choreography: Patrick Bonté and Nicole Mossoux | Performance and artistic collaboration: Dorian Chavez, Taylor Lecocq, Colline Libon, Lenka Luptakova, Frauke Mariën and Shantala Pèpe | Stand-in performers: Quentin Chaveriat and Flora Gaudin | Original music: Thomas Turine | Scenography: Simon Siegmann | Costume: Jackye Fauconnier | Masks, wigs and make-up: Rebecca Flores-Martinez | Assisted by: Marie Messien, Isis Hauben, Sandra Marinelli and Jean Coers | Light: Patrick Bonté | Technical direction: Jean-Jacques Deneumoustier | Costumes confection with the help of: Cécile Corso, Anicia Echeverria and Muazzez Aydemir | Sound technician: Fred Miclet | Light technician: Emma Laroche | Assistant: Baptiste Leclère
A production of Compagnie Mossoux-Bonté, in co-production with Théâtre Les Tanneurs, La Coop asbl. und Shelterprod.
Figurentheater Wilde & Vogel [Leipzig] & Dance Cie.Of(f) Verticality [Linz]: I am not in a room
Text: Emily Dickinson | Choreography: Rose Breuss | Dance: Kai Chun Chuang | Live music, composition: Charlotte Wilde | Light and puppet interventions: Michael Vogel | Programming: Jakob Vogel | Costume: Valentina Shurkhal
Eine Produktion von Wilde & Vogel mit Dance Cie.Of(f) Verticality [Linz], in Koproduktion mit dem Westflügel Leipzig.
Chiara Marchese [IT/FR]: Le poids de l’âme – tout est provisoire
Konzept & Performance: Chiara Marchese | Künstlerische Beratung: Francesca Lattuada, Julie Mondor, Marion Collé, Chloée Sanchez | Tongestaltung: Alexis Auffray, Geoffrey Dugas | Lichtgestaltung: Bernard Revel | Psychodynamisch-kreative Beratung: Dott. Alberto Giorni | Konstruktion, Puppen, Kostüme und kleine Objekte: Chiara Marchese | Bühnenbild: Bernard Revel, Chiara Marchese | Tonmeister: Geoffrey Dugas | Administration: Anne Delépine
Eine Produktion von Marie Pluchart und Julie Mouton - Triptyque Produktion sowie Collectif Porte27.
Koproduktion: Le Sirque, Pôle National des Arts du Cirque de Nexon, Nouvelle Aquitaine | La Cascade, Pôle National des Arts du Cirque Ardèche | Le Cirk’Éole, Montigny-les-Metz | La Machinerie, Homécourt | Réseau CIEL Grand Est | La Grainerie, Balma
Residenzassistenz: Room100, Split, Croatie
Residenzen: Espace Périphérique, La Villette, Paris | Le Nouveau Relax, Chaumont
Mit Unterstützung von DRAC Grand Est und der Région Grand Est.
Le Poids de l'âme - tout est provisoire ist Preisträger von Circusnext 2020-2021, das Projekt wird mitfinanziert durch das EU Creative Europe Program.
Weitere Produktionen, die im Rahmen von Twist it! Figur und Tanz gezeigt wurden:
Jan Jedenak [DE]: UNTIEFE. Hier klicken für die Kritik zum Stück
Christoph Bochdansky [Wien], Dance Cie.Of(f) Verticality [Linz] und Figurentheater Wilde & Vogel [Leipzig] in Koproduktion mit dem Westflügel Leipzig: Der Reigen. Ein überaus schönes Lied vom Tod. Hier klicken für die Kritik zum Stück