Die aktuelle Kritik

Schaubude Berlin: "Sense."

09. März 2020

von Tom Mustroph

Animation und Re-Animation: Veronika Thieme erzählt in „Sense“ mit einem Skelett vom Tod und holt sich dabei Unterstützung von echten Begräbnismusiker*innen.

„Dort, wo ich bin, ist der Tod nicht. Und wo der Tod nicht ist, bin auch ich nicht mehr. Warum soll ich also Angst vor dem Tod haben?“ So lautete in den 50er Jahren ein Spruch in den Gassen Neapels, der sich bis heute erhalten hat. Er könnte auch als Motto über „Sense“ stehen, der neuen Produktion der Regisseurin Tilla Kratochwil und der Spielerin Veronika Thieme, die in der Berliner Schaubude Premiere hatte.

Auch bei „Sense“ ist der Tod weitgehend jedes Schreckens entkleidet. Denn der Blick kommt nicht von den gewöhnlich furchtsamen Lebenden, sondern geht von einer Toten aus. Thieme animiert über weite Strecken des Abends ein Arm großes Totengerippe mit aufgesetztem Schädel. Das führt zu manchem Wortwitz. Die Totenfigur wird von der Spielerin nicht nur animiert, sondern gleich reanimiert. Vor allem aber ist Totsein der Alltag. Von dort aus wird sich zuweilen an das ferne Leben vor dem Tod erinnert. Der Totenschädel erzählt von den Ereignissen, die ihn zu einem solchen werden ließen: Verkehrsunfall oder Krebserkrankung. Auch das Business rings um das Sterben und dessen bürokratische Vor-, Auf- und Nachbereitung findet seinen Platz. Von Vorsorge- und Betreungsvollmacht berichtet Thieme dann. Wohnungsauflösung und die Sortierung von Gegenständen in Krimskram, der gleich weg kann, in Krimskram, der noch einmal aufgehoben werden kann und in Objekte, die verkauft werden können, sind ebenfalls ein Thema. Desgleichen die Abwertung, die Dinge erleiden, die der Erinnerungen, die mit ihnen verknüpft waren, verlustig gingen, weil die Person, die diese Erinnerungen in sich trug, eben nicht mehr da ist.

Eingestreut zwischen die einzelnen Szenen sind Musikeinlagen mit Violine, Akkordeon und Stimme. Dargebracht werden sie vom Duo Miosotis. Das verdient sein Geld sonst vornehmlich auf Friedhöfen, bei der musikalischen Begleitung von Beerdigungen. Der Soundtrack, den die Akkordeonistin und Sängerin Isabel Neuenfeldt und der Violinist Giovanni Reber einbringen, ist von der Auswahl her so vielfältig und zuweilen bizarr, wie die Wünsche von Trauergemeinden eben sein können. Von Kirchenliedern über Volksmusik bis Chanson, Pop und Rock reicht die Palette. Das zerfasert den Abend leider. Die Songs werden zur Hauptsache, das Puppenspiel zum Zwischenspiel. Diesen Eindruck verstärkt Thieme noch, weil sie zuweilen eher verhuscht wirkt, während das Musiker*innen-Duo die Bühne offensichtlich nur sehr ungern wieder hergeben mag.

Ein Höhepunkt ist dann allerdings, wenn Neuenfeldt das Akkordeon einmal beiseite legt und von den Beerdigungen, auf denen sie weilte, zu erzählen beginnt. Die Problemlage von Patchwork-Familien wird da deutlich. Wenn alle Frauen eines drei Mal verheirateten Verstorbenen am Grabe stehen: Wer darf dann zuerst an die Kante treten? Wenn ein Toter gleich doppelt liiert war, einmal mit Kind in Berlin-Reinickendorf, ein weiteres Mal ebenfalls mit Kind in Thailand: Wer hat dann das erste Witwenrecht bei der Zeremonie? Und was ist, wenn eine Mutter sich nach dem Ableben ihres Ehemanns in ihren letzten Lebensjahren noch einmal liiert hat, die vier Kinder den Partner der Mutter aber vielleicht gar nicht richtig kennen und ihn auf die letzte Reihe des Kirchengestühls verbannen?

In solchen Geschichten liegt großes Potenzial. Kratochwil und Thieme heben es leider nur teilweise. Die Stränge von Musik und Begräbniserzählung einerseits und Puppenspiel andererseits bleiben meist separat. Sie sind nicht miteinander verknüpft, machen kaum Resonanzräume auf. Erst am Ende bewegt Thieme ein wenig die eindrucksvolle Gerippepuppe (Puppenbau: Ulricke Langenbein), während an der Rampe musiziert wird.

Das recht rumplige Bühnenbild – ein paar Holzkisten, ein Tisch sowie ein schwarzer Vorhang, der erst am Ende geöffnet wird – ist alles andere als ein Augenschmaus. Weil die Bühne meist komplett ausgeleuchtet ist, ergeben sich auch selten differenzierte Stimmungen. Zur Premiere wirkte die Produktion überraschend unfertig.

Das ist schade. Denn das Thema ist gut. Und die Zusammenarbeit mit den Begräbnismusiker*innen stellt auch konzeptionell einen interessanten Ansatz dar.

 

Premiere: 04.03.2020

weitere Spieltermine: 26., 28.3. 20 Uhr, 29.3., 19 Uhr, Schaubude Berlin