Die aktuelle Kritik

Julian Vogel, Köln: "CHINA SERIES"

Von Tom Mustroph

In der objektbasierten Jonglagekunst kristallisieren sich neue Arbeitsweisen heraus. Statt Manipulation von Objekten auf höchstem Niveau erkunden die Vertreter*innen des zeitgenössischen Zirkus die Materialität ihrer Objekte und analysieren die Beziehung zwischen sich und dem Gegenstand. Beispiele für neue Formate, die dabei entstehen, waren über Pfingsten beim "CircusDanceFestival" in Köln zu sehen.

Zwei Keramikschalen rollen auf einer Schnur. Nach links und rechts bewegen sie sich, schwingen auch nach oben und unten. Geführt wird die Schnur, die die Schalen in Bewegung hält, vom Artisten Julian Vogel. Er hält einen Stab in jeder Hand, der seinerseits in die Schnur ausläuft. Der Körper des Künstlers, die Stäbe, die Schnur und das auf der Schnur rollende Diabolo – zu einem solchen Diabolo sind die zwei Keramikschalen verschraubt – wachsen zu einem Organismus zusammen. Dieser dehnt sich mal aus, wenn Schnur und Diabolo in die Höhe schnellen, mal zieht er sich zusammen, wenn Vogel sich auf den Boden kauert – und dabei sehr virtuos das Diabolo weiter tanzen lässt.

Vom Einrad zum Diabolo

Vogel ist Jongleur. Doch zunächst hat er Einradfahren gelernt: „Das war in einem Sportverein. Ich war aber nie richtig gut darin und habe dann in einem Kinder- und Jugendzirkus mit dem Diabolo angefangen. Seitdem beschäftige ich mich damit“, sagt der gebürtige Schweizer lachend. Vogel steht für eine vergleichsweise neue Strömung in den Zirkuskünsten. Statt sensationelle Tricks in großer Virtuosität zu erarbeiten und als Nummer von den großen Zirkuscompagnien engagiert zu werden, setzen Vertreter*innen des zeitgenössischen Zirkus auf andere Formate und veränderte Arbeitsweisen. Das beinhaltet zunächst eine intensivere Befragung des Materials. „Während meiner vielen Arbeiten mit dem Diabolo habe ich das Objekt auseinandergenommen und wieder zusammengesetzt. Da war ich auch einmal in der Küche. Mein Blick fiel auf zwei Suppenschüsseln - und ich dachte: Das sieht doch aus wie ein Diabolo. Und dann habe ich zwei Löcher gebohrt. Und voilà, da war das Diabolo“, erzählt Vogel dem Fidena-Portal. Nur noch an ihren Böden zusammenschrauben musste er die beiden durchlöcherten Schüsseln.

"CHINA SERIES" © Jona Harnischmacher

Fragilität und Einzigartigkeit

Das neue Objekt war schwieriger im Handling, denn Porzellan ist fragil, Keramik ebenso. „Trifft man mit dem Loch nicht ganz genau die Mitte, eiert das Diabolo natürlich. Ist ein Henkel an der Schüssel, verändern sich die Rotationseigenschaften ohnehin enorm“, berichtet Vogel weiter. Auch Form, Größe und Gewicht haben Einfluss auf die Bewegungsqualitäten. Und selbst unterschiedliche Brennstufen haben Auswirkungen. Vogel stellt inzwischen Keramikdiabolos in verschiedenen Größen selbst her. Er formt sie aus Steinzeug und stellt sie anschließend in einen Brennofen. Die Tätigkeit in der Keramikwerkstatt ist eine Konsequenz der Materialerkundung. Sie haben den Jongleur zu einem Objektdesigner gemacht.

Aber auch mit der Klangqualität der Keramik- und Porzellanobjekte beschäftigt Vogel sich. Seine „CHINA SERIES“ – ‚China‘ wegen des englischen Begriffs für Porzellan – besteht neben performativen Teilen auch aus Installationen. Mit kleinen Elektromotoren lässt er deformierte Schüsseln rotieren. Schüsseln mit gewellten Rändern schraubt er aneinander und bringt sie über kleine Fließbänder in Bewegung. Ein beständiges Rattern und Klimpern erfüllt den Ausstellungsbereich von „CHINA SERIES“. Aus Porzellan- und Keramikscherben hat Vogel zudem Vorhänge und kreisrunde Installationen gefertigt, durch die das Publikum sich hindurchbewegen kann und dabei die Scherben aneinanderklackern. Es handelt sich hierbei um eine Erweiterung der Jonglagepraxis in den installativen Bereich der bildenden Kunst. Vogel tritt nicht selten auch in Museen auf.

Mensch-Objekt-Beziehung

Bemerkenswertester Aspekt des performativen Teils der „CHINA SERIES“ ist die Beziehung, in die Vogel und die von ihm bewegten Objekte treten. Über die Dauer der Performance, etwa 30 Minuten, verschmelzen Menschenkörper, Schnur und Diabolo miteinander. Zu diesem Eindruck trägt bei, dass sich die Mensch-Objekt-Hybride permanent im Mittelpunkt einer Kreisfläche bewegt, sich dabei um sich selbst dreht, sich ausdehnt und wieder schrumpft – und stets den Eindruck eines an einem Punkt verankerten pulsierenden Wesens erweckt. Vogel selbst will diesen visuellen Verschmelzungsprozess nicht überbetonen. Diabolo und Schnur seien „ganz klar nicht Teil meines Körpers“, sagt er. „Aber es ist ganz klar Teil von mir als Performer auf dieser Bühne, wie ich auch Teil bin dieser Performance. Und dieser Eindruck der Entität war für mich auch ein wichtiger Antrieb zu Beginn und eine große Faszination. Denn ich fragte mich, wie komme ich weg von dieser Tätigkeit als Objektmanipulator? Denn im Zirkus ist es der Manipulator, der die Objekte bewegt. Und die machen dann idealerweise, was der Manipulator will“, beschreibt Vogel seinen Ansatz.

"CHINA SERIES" © Michel Groen

Statt Manipulation, also virtuose Beherrschung des Objekts, strebt Vogel einen Dialog an. Einen bedingten Dialog freilich, denn den Rahmen bestimmt immer noch er als Jongleur. Er beschreibt die Beziehung so: „Ich manipuliere das Diabolo und gebe dann eine Richtung vor. Ich bringe damit mich und uns in eine Situation, in der ich, damit das Objekt nicht fällt, dem Objekt folgen muss. Natürlich geschieht alles auf der Basis dieser Entscheidung, dass ich will, dass es nicht fällt.“

Der Jongleur lässt sich dabei auf das Objekt und dessen Bewegungen ein. Er folgt ihm, um der Schwerkraft entgegenzuwirken. Er steuert auch Bewegungsrichtungen, wird in seinem Entscheidungsspielraum aber auch begrenzt von seinem eigenen Vermögen und dem, was dem Objekt im Schwerkraftraum möglich ist. Durch dieses bedingte Eingehen aufeinander entsteht ein Zauber. Eine skulpturale Qualität von Objekt und Spieler wird erreicht, die sogar dynamisch ist und vor allem zu einem ästhetischen Mehrwert führt, der über das Bestaunen von Virtuosität hinausgeht. In Vogels Händen, die Stab und Schnur führen, erscheint das Diabolo fast schon animiert – ein Wesen mit Eigenschaften.

Vogels Performance klopft hier sachte am Bereich des Objekttheaters an, an eben animierten Objekten. Ganz geht er diesen Schritt nicht. Die Auseinandersetzung mit dem Material, das Austesten der kinetischen und akustischen Qualitäten und die Erweiterung der Bewegungskunst in installative Räume kann aber auch Anregung für Objekttheatermacher*innen sein. Auf alle Fälle lohnt der Blick in die benachbarte Kunstform des zeitgenössischen Zirkus. Das CircusDanceFestival hat sich als Thema auch das Neu-Denken von Objekten und der Mensch-Objekt-Beziehung in den Künsten vorgenommen. Julian Vogels „CHINA SERIES“ stellte dabei die komplexeste Auseinandersetzung dar.

---

Autorenschaft und Performance Julian Vogel | Künstlerische Begleitung Roman Müller | Licht und technische Begleitung Savino Caruso | Technik auf Tour Orpheo Carcano, Roman Müller, Noémie Hajosi | Grafik-Design Laurence Felber | Texte und Übersetzung Cyrille Roussial, Julian Vogel | Produktion Ute Classen | Ko-Produktion Festival cirqu’aarau, Plus Petit Cirque du Monde – Pépinière, Premiers Pas, Festival Circolo, Südpol Luzern, circusnext | Unterstützt durch Aargauer Kuratorium, Arts Printing House Vilnius, Albert Koechlin Stiftung, Berlin Circus Festival, Centre Culturel Suisse Paris, Ernst Göhner Stiftung, FUKA-Fonds Stadt Luzern, GG Stadt Luzern, ICC Santa Maria da Feira, La Maison des Jonglages, La Plateforme 2 Pôles Cirque en Normandie / La Brèche à Cherbourg et le Cirque-Théâtre d‘Elbeuf, Panama Pictures, Pro Helvetia, Riga Circus, RKK Luzern, Station Circus Basel, Sundaymorning@ekwc

Mehr Infos zum Festivalprogramm: https://circus-dance-festival.de/festival/

1 Kommentar
Peter Waschinsky
31.07.2022

Julian Vogel, Köln: "CHINA SERIES"

Virtuosität ist in der Akrobatik Voraussetzung - sie zugunsten neuer Ausdrucksmöglichkeiten zurückzunehmen, hebt diesen Tatbestand nicht grundsätzlich auf. Vielleicht ist das wirklich eine Möglichkeit, die Stagnation des "Modegenres" Objekttheater zu überwinden. Aber da Virtuosität im Puppenspiel latent als suspekt gilt und als versteckter Vorwurf an die, die sie nicht haben, kann eine solche Entwicklung wohl eher von Artisten ausgehen, weniger den Objektspielern, die oft so wirken, als wären sie mit dem Objekttheater vor den artifiziellen Anforderungen des Puppenspiels ausgewichen.

Ich habe in den 80ern einen Versuch gemacht, verschiedene Künste zusammenzubringen, konkret durch Ostberliner Studenten derselben. Inspiriert durch Frankreichs Cirque Nouveau, während in der DDR noch eher biedere Genre-Isolation herrschte.
Das Projekt wurde teils be- oder gleich ver-hindert durch die jeweiligen Hochschulen, so daß Jonglage mit Schauspiel, aber nicht mit Puppenspiel zusammenkam.

Das immer noch oder wieder Desinteresse an Austausch manifestiert sich wohl nicht zuletzt darin, daß hier außer mir keiner mehr kommentiert.

("Entität" - Schreibfehler? Nein, s. Wikipedia)

Neuer Kommentar