An der Schnittstelle - Lindenfels Westflügel
Drei Jahre später: Eine langgliedrige Frau mit großem bleichen Gesicht, ein müder Tod, ein geiler Frosch, dämonische Chimären – aus Alpträumen geborene Wesen suchen den Schlafenden heim. Angetrieben von Charlotte Wildes Elektrogitarre, liefert sich Michael Vogel seinen giaccomettihaft grazilen Kreaturen zärtlich aus, für einen letzten Tanz.
Die melancholischen Fragmente von Lebenslust und Verzweiflung korrespondieren nicht nur mit der Gedankenwelt von Baudelaires späten Prosagedichten, Wilde & Vogels erste im Leipziger Lindenfels Westflügel entstandene Inszenierung „Spleen“ weiß auch berückend-bedrückend die morbide Atmosphäre des alten Ballsaales zu nutzen, der seine Beschädigungen, seinen Zerfall ungeschönt vorzeigt. Ein Tanzsaal für die Gespenster der Erinnerung wie sie etwa auch Wilde & Vogels Inszenierungen „[Exit. Eine Hamletfantasie“, „Lear“ oder „Faust spielen“ bevölkern, ein Konzertsaal für imaginatives Figuren-/Musiktheater, ein Labor für genreübergreifende Theaterexperimente.
Neben dem besonderen Charme des Spielorts war es auch die Struktur des Stadtteils, die diese Idee beförderte. Der Lindenfels Westflügel befindet sich zwischen den Leipziger Stadtteilen Plagwitz und Lindenau, im ausgehenden 19. Jahrhundert blühender Industriestandort, heute in einer Phase der Umgestaltung und Entwicklung. Die räumlichen Möglichkeiten der Stadtteile haben eine Reihe von Künstlern angezogen, die mit Galerien, Ateliers und Veranstaltungsorten den Stadtteil beleben. Auch die unmittelbare Nachbarschaft der „Schaubühne Lindenfels“, eines etablierten Veranstaltungsorts für Film und Darstellende Künste, im Hauptteil des Gebäudekomplexes, sprach für den Standort.
Dagegen standen enorme Risiken: erhebliche finanzielle Unsicherheiten weit jenseits der wirtschaftlichen Leistungskraft des Ensembles, ein ungeheurer Sanierungsbedarf bei gleichzeitigen strengen Auflagen des Denkmalschutzes, die mangelnde Verankerung des Ensembles in der Leipziger Kulturszene – ein Projekt mit offenem Ausgang.
Ziel der Initiative war, im Westflügel ein kontinuierlich arbeitendes internationales Produktionszentrum für Figurentheater zu realisieren. Vor allem dieses Konzept und die ausgeprägte Gestaltungskraft des Gründungsensembles machen die Besonderheit des Spielortes aus. Das Figurentheater Wilde & Vogel bespielt das Theater regelmäßig mit eigenen Produktionen und bringt auch alle Neuproduktionen dort heraus. Die explizit international konzipierte Öffnung hin zu anderen Kunstsparten und Theatersprachen ist in der deutschen Figurentheaterszene ein Novum. Bereits in der ersten Spielzeit präsentierten Wilde & Vogel zahlreiche Produktionen von Künstlern, denen sie sich durch gemeinsame Produktionen oder eine gemeinsame Theateridee verbunden fühlten: Christoph Bochdansky, Florian Feisel oder die polnische Kompania Doomsday, um nur einige zu nennen.
Zum Netzwerkkonzept von Wilde & Vogel gehört auch die interdisziplinäre Zusammenarbeit mit Initiativen und Künstlern vor Ort. So entwickelte der Westflügel im Sommer 2009 mit dem in Leipzig beheimateten Aktionskünstler Jim Whiting die theatrale, interaktive Maschineninstallation „Deus ex machina“. Im Rahmen des von Tom Grigull kuratierten städteübergreifenden Japan-Festivals „Ohayô, Japan!“, das sich der Vermittlung von zeitgenössischer und traditioneller Theater- und Tanzkunst widmet, zeigte der Westflügel mehrere Aufführungen japanischer Performer und Figurenspieler. Konzerte, Workshops, Führungen, Ausstellungen und Performances komplettieren das Programm.
Diese Vielfalt an Formaten und Formen wird stets gebündelt in einem inhaltlichen Zusammenhang, einer Art „Spielzeitmotto“, das die gezeigten Produktionen thematisch zueinander in Beziehung setzt und zur Diskussion stellt. Ein ebenso wichtiges identitätsstiftendes Element ist die grafische Begleitung des Projekts durch den Hallenser Grafiker Robert Voss. Von Beginn an war Voss an der Gestaltung des Spielorts mitbeteiligt und entwickelte für den „Westflügel“ eine explizit bildnerisch ausgerichtete, grafische Konzeption. So hat das Haus auch nach außen hin eine klar erkennbare, unverwechselbare „Handschrift“ an der Schnittstelle von dramatischer und bildender Kunst.
Durch die Finanzkrise sind viele Stiftungsgelder geschmälert, Projektzuschüsse fielen deutlich geringer aus, und eine institutionelle Förderung ist immer noch nicht in Sicht. Konsequenz: die gesamte Organisation muss inzwischen von einer einzigen Mitarbeiterin geleistet werden, für Gäste können keine angemessenen Honorare mehr bezahlt werden. Dabei steht nicht nur beim Publikum und der Presse, sondern auch in der Kulturverwaltung und der Kommunalpolitik außer Frage, dass der „Westflügel“ in den letzten Jahren zu einem wichtigen Bestandteil der Leipziger Kulturszene geworden ist. Es ist der Initiative – und der gesamten deutschen Figurentheaterszene – daher nur zu wünschen, dass es der Stadt Leipzig gelingt, diesen Spielort zu halten und dem innovativen Theaterprojekt bald möglichst eine institutionelle Förderung zukommen zu lassen, damit diese Liebesgeschichte für alle Beteiligten glücklich weitergehen kann.
Katja Spiess