Die aktuelle Kritik

Theater der Jungen Welt: "Kann das Gehirn das Gehirn verstehen?"

von Franziska Reif

Die Geschichte der Hirnforschung ist ein unterhaltsamer Ritt durch die Geschichte der Manipulation – mit einer Fülle offener Fragen.

Das eigentliche Theater ist draußen, teilt Jens mit, die Wirklichkeit hier. Jens (Sven Reese) ist ein Gorilla mit Maske, Fellumhang und Lederhose, der im Käfig der Hirnforschung lebt und dieser zu Diensten ist. Er ist clever, meist schlauer als die Wissenschaftler, die ihn allerlei Prozeduren unterziehen, Knöpfe drücken lassen und mit Belohnungen ködern. Sie versuchen, in die Abläufe in seinem Kopf zu schauen, und freuen sich, wenn Jens ihre Hypothesen bestätigt. Er dagegen freut sich, wenn er seine Ruhe hat, weil er geliefert hat, was sie wollten.

Das Gehirn kommt ebenfalls ins Spiel, wenn der Mensch von sich spricht: Bei der Ausbildung des Bewusstseins ist es irgendwie beteiligt. Aber was ist Bewusstsein eigentlich, wie funktioniert Erinnerung – und wieso funktioniert sie so oft nicht? Wie definiert man Denken und woher weiß man, wer das Ich ist? Wie kann es sein, dass Gedanken schmerzen? Und was ist ein Gedanke überhaupt?

Kopfbetont

Der Wissenschaftsautor Matthias Eckoldt hat sich schon des Öfteren eingehend mit solchen und vielen weiteren Fragen befasst, unter anderem ein erfolgreiches Buch darüber geschrieben. Zusammen mit Regisseurin Tatjana Rese ist eine theatrale Expedition in das Reich der Hirnforschung entstanden, das zwischen Neuronen und Großhirn, Synapsen und Amnesie auch immer wieder Fragen der Wissenschaftstheorie tangiert: Das Streitgespräch der weißbekittelten Kopfmenschen läuft regelmäßig auf die Frage hinaus, wie denn nun Befunde zu interpretieren sind – beide (Sonia Abril Romero, Benjamin Vinnen) beherrschen den jovial-herablassenden Ton des selbstbewussten Wissenschaftlers, der allzeit seinen Ruhm und die Forschungsgelder im Blick hat. Nicht erst nämlich, seit es EEG und MRT gibt, tun sich Anatomen und Neurowissenschaftler mit großen Aussagen hervor, die vielleicht doch zu viel wollen und später revidiert werden müssen.

Das ist ja die Frage, was man wissen kann über diese zentrale Schaltstelle. Vor beinahe zweieinhalb Jahrtausenden schon nahm Herophilos von Chalkedon interessierte Eingriffe am lebenden Objekt vor. Kasper darf das erleben. Sein monströser Kopf muss zwei blutigen Fleischerschürzen (Dirk Baum, Philipp Zemmrich) und ihrer Säge für ihre Vivisektion herhalten, die nach der Schädelöffnung in seinem Gehirn herumpulen und auch ihn damit spielen lassen. Ihm selbst scheint die Manipulation nicht allzu gut zu bekommen.

Das Bühnengeschehen in diesem Wissenschaftstheater findet viele Formen der Erläuterung, die trockene Belehrung bleibt aus. Dank eines kurzen Filmchen – eine Frau tätigt einen Einkauf in der Drogerie – erfährt das Publikum sozusagen am eigenen Hirn, was eine Fehlerinnerung ist. Ein Chor in OP-Kleidung streut Informationen ein, René Descartes und Elisabeth von der Pfalz haben als kopfbetonte Puppen in Dirk Baums Spielerhänden ihr ganz spezielles Leib-Seele-Problem. Projektionen an der Bühnenrückwand flankieren das gesprochene Wort mit Begriffen wie Determinismus, Amygdala oder Dopamin, Musik, Vertikalseil und Tanzeinlagen verhandeln die Hirnkost weiter.

Die Frage, welche Schlüsse sich aus den Forschungsergebnissen ziehen lassen, hängt eng mit der nach ihrer Interpretation zusammen. Weltbilder und Zeitgeist blitzen durch, wenn die wissenschaftliche Autorität Empfehlungen ausspricht, etwa zu mehr Gewalt in der schulischen Bildung. In Videocollagen teilen Leute ihre Gedanken mit: Wie fühlt sich die Farbe Rot für dich an? Ist das Bewusstsein im Traum ausgeschaltet? Was machst du, wenn du machen kannst, was du willst? Wie fühlt sich Wut an? Zwischendurch führen die Forscher im Käfig vor, wie erlernte Hilflosigkeit praktisch aussieht. Jens, der Gorilla, sperrt sie ein. Und zeigt, dass er ganz sicher über einen freien Willen verfügt.

Premiere 20. April 2018

Regie: Tatjana Rese

Bühnenbild: Nathalie Schanze, Sarah Zirk

Kostüme: Reiner Wiesemes

Puppenbau: Judith Mähler

Fotos: Stefan Hoyer

Musik und Video: Thomas Wolter

Dramaturgie: Birgit Lindermayr

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