Die aktuelle Kritik

La Barque Acide, Weitblick Festival 2022, Braunschweig: "The End Is Nigh!"

Von Alexander Rudolfi

Die Gruppe La Barque Acide versetzte die Zuschauer:innen mit "The End Is Nigh!" in einen apokalypsesüchtigen skurrilen Zirkus, über dem das Motto zu stehen schien: Es ist einfacher, sich das Ende der Welt vorzustellen, als das Ende des Kapitalismus.

In der Soziologie Emile Durkheims gibt es einen Zustand, den er Anomie nennt und der den Übergang von der einen sozialen Ordnung in die andere beschreibt. Folge sei eine Verunsicherung vorher gültiger Normen und Grenzen, ein Zustand, den man im Bereich der Wirtschaft immer wieder fände. Am Freitagabend hat es die Gruppe La Barque Acide in Braunschweig mit The End Is Nigh geschafft, die 180 anwesenden Zuschauer:innen, gerade diese Lust an der Entgrenzung spüren zu lassen.

Den Einkaufswagen vor sich, in Crocs und mit zombieartig herabhängendem Schädel, balanciert eine Gestalt auf dem Drahtseil. Davor sitzt ein Mann in Anzug an einem Schreibtisch und platziert einen Toaster wie eine Schreibmaschine. Ein streng choreografiertes Durcheinander beginnt, eine Jonglage mit fertigen Toasts, in der alle Bewegungen immer schneller werden, dirigiert vom Zeitintervall des Toasters. Wir sehen drei Clowns, Jongleure, eine Diavolo-Spielerin, die sich über reine Artistik hinausarbeiten. Die Modernisierung des Zirkusgenres weiß hier um das Genre und seine Konventionen und nutzt sie als Metadiskurs. Die Jonglage wird zum kafkaesken Bild sich ausbreitender Bürokratie und beschleunigter Arbeitsprozesse. Bald gibt es keinen Unterschied mehr zwischen dem Fließband einer Fabrik, einem Toaster oder dem täglichen PC, an dem wir arbeiten.

La Barque Acide - The End is Nigh © Circusography

Eine Akrobatiknummer öffnet Reflexionsräume ebenso über Objektifizierung wie über die Darstellung physischer weiblicher Stärke – indem das Turngerät nicht ein Barren, sondern der nackte Körper einer anderen Frau ist. Eine Clownsnummer verhandelt toxische Beziehungen: Eine Tänzerin sieht sich zu den vom Clown verrenkten Luftballons durch den Raum gebogen und geworfen. Eine Nummer folgt auf die nächste und breitet das Panorama eines Lebensgefühls aus, das sich mit Fragen nach der Animation im Figurentheater verschränkt: Wer kontrolliert wen? Wie kann etwas animiert und kontrolliert werden, das bereits beseelt ist?

Im Rahmen des 7. internationalen Figurentheater Festivals Weitblick 2022, veranstaltet vom Theater Fadenschein, wurde dieser Diskursraum bereits mit dem Stück HERO der Numen Company angedeutet und mit dem Film ANIMA, ANIMAE, ANIMAM sowie dem dazugehörigen Stück THRASHHH!!! von Cia. Zero en Conducta deutlich. Festival-Leitung Alba Scharnhorst und Miriam Paul haben mit La Barque Acide eine Gruppe eingeladen, die sich in Toulouse formiert und ein Stück über eine Generation entwickelt hat, für die der Weltuntergang zur täglichen Horrorshow gehört, sich ständig erneuert und von vorne anfängt, während sie lernt, es zu genießen, in einem Scherbenhaufen zu stehen und den Schmerz zu fühlen, der einem bewusst macht, dass man noch lebt - bis man sogar darauf tanzt.

La Barque Acide - The End is Nigh © Günter Wolters

In der Arbeitsweise der Gruppe selbst spiegelt sich dieses Prinzip wider. Jedes Mitglied der Kerngruppe ist austauschbar, die Verständigung erfolgt über eine der neun verschiedenen Sprachen, aber meistens auf Englisch, und je nach Auftragslage und Arbeitsort übernimmt man füreinander die Rollen. The End Is Nigh glaubt dabei weder an die große Erzählung noch an eine geschlossene Handlung mit klassischer Dramaturgie, sondern an das Paradox einer fragmentierten Realität, in der ein Erlebnis auf das nächste folgt, aber zuletzt für das Individuum doch alles eine gemeinsame Bedeutung hat.

Eine ähnliche Herangehensweise und Thematik war auch am selben Abend in Ilka Schönbeins Bearbeitung der Bremer Stadtmusikanten präsent. Musikant:in um Musikant:in wird im Augenblick zwischen Tod und Bremen porträtiert. Schönbeins Inszenierung war ruhiger, in der Formsprache an eine andere Sensibilität gerichtet und mit Blick in die Vergangenheit.

Nach dem Übergangsjahrgang 2019, in dem die vorherige und jetzige Leitung gemeinsam an der Entwicklung des Programms arbeiteten, übernahmen dieses Jahr Miriam Paul und Alba Scharnhorst die kuratorische Verantwortung. Bereits mit dem Eröffnungsstück Kaffee mit Zucker brachten sie den Mut auf, zu zeigen, dass ein Wechsel stattgefunden hat, der offen ist für Diskussionen – in Nachgesprächen und Gesprächsrunden am ersten, wie auch am Tag der Aufführung von The End Is Nigh: Ob es sich hierbei überhaupt um Figurentheater handle? Warum sich besonders (aber nicht nur!) die jüngere Generation so sehr für dieses Stück voller akrobatischer Virtuosität, brüchiger Intimität und humorvollem Nihilismus begeistern kann? Ein Abend also, der verschiedene Generationen feministischer Diskurse miteinander in Verbindung brachte, im Übergang, der das Nebeneinander ermöglicht und zulässt, um auf eine ganz eigene Art zu verunsichern. Der Applaus für das Stück in Braunschweig war rauschend.

The End Is Nigh

A. Rudolfi –

Von La Barque Acide

Premiere: 14.10.2022 (Bearbeitung für das Weitblick-Festival 2022)

BETEILIGTE PERSONEN

Beteiligte Personen: Carla Carnerero | Marcelo Nunes | Marie

Vanpoulle |Maristella Tesio | Steph Mouat | Léo Roussolet | Simon

Bournouf | Karita Tikka | Aidan Rolinson-Rainford

Titelfoto: La Barque Acide - The End is Nigh © Circusography

Dauer: 60 Minuten

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