Die aktuelle Kritik

Anne Brüssau & Emilien Truche, Stuttgart: „Plan B. Eine Schatten-Trash-Horror-Story“

Von Brigitte Jähnigen

Warum sind menschliches Leben und Lieben immer wieder von Gewalt bedroht? In ihrer „Schatten-Trash-Horror-Story“ entwerfen Anne Brüssau & Emilien Truche zusammen mit Tobias Tönjes einen „Plan B“ für die Welt. Sie spielen mit Einsichten, Geheimnissen und Wundern, wofür sie besonders auf die Faszination des Schattentheaters setzen.

Das weiße Tuch an der Bühnenstellage ist ein wenig geknittert, daneben ein Guckkasten aus Pappe wie von Kinderhand gebastelt. Zierlich geschnitten, durch eine starke Lichtquelle sichtbar gemacht, folgen winzige Autos und menschliche Figuren vor der Skyline einer Großstadt ihrem Ziel. Eine Gondel schwebt an einem Ballon ins Bild, ein Vogel plustert sein Gefieder auf. Im Scherenschnittcafé zischt aus einer Espressomaschine Wasserdampf – und das ganz real.

Ein skurril geschnittenes Pärchen trifft sich als Schattenpaar zum Rendezvous: Die Illusion für den Zuschauer, Teil einer wiederkehrenden Alltäglichkeit zu sein, ist fast perfekt. Nur fällt dem tollpatschigen Verehrer der Caféhausschönheit die Blüte vom Stängel. Prompt singt Anne Brüssau einen Werbesong für Plastikblumen. Murmelnd, aber ohne Worte kommentiert Emilien Truche mit schwarzem Kunstbart aus dem Guckkasten.

Kurzer Kleiderwechsel: Als stummer Alchimist werkelt Truche ganz in Weiß und mit huschenden Bewegungen in einem Papplabor. Wie aus dem historischen Bilderbuch ist sein Tun mit Pipetten, Farben und Kräutern. Und dann das Erstaunen über die abstrakte Schönheit einer roten Mohnblüte – aus einer opaken Kiste zaubert er sie. Strapazierfähig, lebenslang haltbar.

"Plan B" © Clarissa Kassai

Der poetische Bilderfluss spannt sich bis auf den Meeresboden. Mehr assoziativ denn konkret erkennbar, wabert und schlingert graue Masse zum Echolot. Archaisches Leben (in einem anderen Land; auf einem anderen Kontinent?) kommt mit Ziege, Schaf und Kuh ins Spiel. Die szenischen Verknüpfungen der Bilder sind inhaltlich nicht immer logisch, wirken aber in ihrer verspielten Machart.

Unheil droht: Die Tiere als Seismografen verschlucken sich hustend, ein erstes Häuschen mit Spitzdach kracht zusammen. Kanonendonner mischt sich mit rhythmischen Warntönen, Truche korrespondiert überfordert auf zwei altmodischen Telefonen. Abrupt kommt der Szenenwechsel vom Zerstörungsmodus außerhalb der Landesgrenzen zurück zum Alltag in der Cafébar. Das am Fadenzug geführte Schattenpärchen tanzt, die rote Blüte bleibt heil, ein aufsteigendes Herz dient als Liebeserklärung. Anne Brüssau trällert ein Liebeslied. Wie durch fernes Leid geläutert, denkt sie um. Nicht mehr alles will sie haben. Einen Kompromiss will sie leben. Hinter dem Bühnentuch singt sie: „Erst sagst du ja, dann sagst du nee, bleib noch kurz bei mir, dann geh“, da sie als Verliebte glaubt, auf diese Weise „tut es nur ein kleines bisschen weh“.

Schöne, heile Welt? Mitnichten! Das Grauen kündigt sich auch in der Metropole an, und zwar mit einer Kralle. Als überdimensionierter Scherenschnitt erscheint sie auf dem weißen Tuch. Von permanentem Ostinato begleitet flüchten winzige Figuren durch Straßenschluchten. Anne Brüssau führt eine fragile Figur mit Hasenohren, dürren Ärmchen und Barthärchen am Fadenzug. In seinem losen Gewand mit Lochmustern ist das Geschöpf von verführerischer Schönheit. Angstvoll flatternd, kommentiert Emilien Truche im Guckkasten die Situation. Entschlossen reißt ihm die Kralle den Bart ab, attackiert das haarlose Haupt, geht ihm an die Gurgel. Feuersbrunst breitet sich in der Stadtsilhouette aus, auf den Dächern tobt der Kampf. Keine Chance für Leben und Liebe.

Oder vielleicht doch? Emilien Truche hebt einen Karton mit der Aufschrift „Plan B“ in die Höhe. Entschlossen greift der Figurenspieler ins unbekannte Innenleben, fördert ein molluskengleiches Wesen zutage. Das wurmähnliche Untier greift ihn an, saugt sich fest, das Publikum ekelt sich mit Wonne. Einem Wunder gleich wird der kommende Kampf durch eine schlichte Bitte entschieden: Der kriegerische Schattenriese entlässt einen bittenden Winzling aus seiner Krallenfaust, zieht von dannen und nimmt das Geheimnis seines Sinneswandels mit.

In der vergangenen Spielzeit hat Anne Brüssau als Regisseurin mit „Horror Vacui“, einem audiovisuellen Objekttheater, eine sehr stringente Produktion gezeigt. Die innere Leere mit Liebe füllen – das wurde im Spiel von Gerda Knoche und Helga Lázár zu einem Fluss provokanter, hoch emotionaler Bilder. „Plan B“, für das Anne Brüssau Konzept, Spiel und Figurenbau zusammen mit Emilien Truche verantwortet, ist loser gestrickt, verspielter, über die 60-Minuten-Spieldauer nicht immer selbsterklärend, aber durch seine lebhafte Bildhaftigkeit nicht nur für Erwachsene, sondern auch für jugendliche Zuschauer*innen geeignet.

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Plan B“, Material- und Puppentheater

Premiere: 1. Dezember 2022 im FITZ! Zentrum für Figurentheater Stuttgart

Konzept, Spiel und Bau: Anne Brüssau & Emilien Truche

Konzept, Dramaturgie und Außenblick: Tobias Tönjes.

Spieldauer: 60 Minuten

Gefördert von der Stadt Stuttgart, vom Landesverband Freie Tanz- und Theaterschaffende Baden-Württemberg e.V. aus Mitteln des Ministeriums für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg, vom Fonds Darstellende Künste aus Mitteln der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien im Rahmen von NEUSTART KULTUR; und unterstützt von Figurentheater Osnabrück und FITZ! Zentrum für Figurentheater Stuttgart.

 

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