Die aktuelle Kritik

ANALOG Theater, Köln: „Mein Vater war König David“

Von Dorothea Marcus

Den Traumata entkommen: Das ANALOG Theater setzt sich in seiner neuesten Produktion mit Identität, Familie und intergenerationellen Traumata auseinander.

Wer ist Jude? Die Frage entwickelt in Deutschland immer wieder Brisanz, Verkrampftheit, Aufregung – und wird von Feuilletons gerne hochgekocht. Da gab es im Sommer 2023 etwa den Fall des Autors Fabian Wolff, der zugab, doch nicht jüdisch zu sein, obwohl ihm seine vermeintliche Identität viele Schreibaufträge gesichert hatte. „Wilkomirski“-Syndrom heißt es, wenn sich deutsche Norm-Christen als Juden mit familiärer Holocaust-Erfahrung ausgeben. Eine besondere Form der Schuld und Scham, oder eine tiefe Sehnsucht nach Schicksalswucht? Das Syndrom passt gut zur Installation des Analog-Theaters im Kölner Orangerie-Theater: Wer darf sich Jude nennen? 39 Kriterien gibt es da angeblich. Vor Beginn von „Mein Vater war König David“ sind auf hängenden Bettlaken Interviews mit „echten“ jüdischen Deutschen projiziert. Manche sind stolz auf ihre „Andersartigkeit“, andere benutzen ihr Judentum als Vehikel, um aus russischer Identität zu fliehen, andere haben keine jüdische Mutter und fühlen sich trotzdem jüdisch. Und während die Zuschauer noch schweigend zwischen den Projektionsflächen wandern – nichts anderes ist die sogenannte jüdische Identität oft genug – mischen sich nach und nach Wesen mit riesigen, wattierten Puppenköpfen und großen Augen unter sie (Masken: Eva Sauermann), sitzen still auf Stühlen. Ein junges Mädchen mit Pagenkopf, cool und zerbrechlich zugleich. Ein Mann mit Schnurrbart. Eine alte Frau. Traurig oder tough, fröhlich oder nachdenklich blicken die Masken - es ist verblüffend, wie sie ihre Gesichtsausdrücke scheinbar verändern, je nachdem, welche*r Performer*in sie gerade trägt.

"Mein Vater war König David" (c) Studio Pramudiya

Und dann setzt sich die Maske der alten Frau auf einen Stuhl und beginnt zu erzählen, abwechselnd mit einem Video der echten Großmutter: von Netty, 14 Jahre alt im Jahr 1942, die erst geschockt den gelben Stern trug und dann untertauchte, in einem kleinen Zimmer täglich neun Stunden stillsitzen musste. Erzählt, wie ihr Körper dabei kribbelte. Wie endlos langweilig es war, nicht mehr vorzukommen, sich auflösen zu müssen - und doch permanent angsterfüllt zu sein. Es ist die wahre Geschichte der Großmutter der Performerin Lara Pietjou, die an diesem Abend ebenfalls mitspielt. Was hat das mit der Familie gemacht? Kann sich das Trauma einer jungen Jüdin in Nazi-Deutschland weitervererben, Identität prägen? Aber was ist das überhaupt? „Identität ist die Lücke zwischen dem was ich bin – und sein möchte“, sagt einer. Mit schwarzem Frack und Maske kommt nun die Männer-Maske, Laras Vater, auf die Bühne, schwenkt duftenden Weihrauch. Einst spielte er Englisches Horn im Rheinischen Philharmonieorchester, hatte das seltene „absolute Gehör“, konnte den Kammerton A aus dem Stegreif singen. Doch dann driftete er ab, geriet in eine manische Depression, steigerte sich in absurde Kaufräusche – auf der Bühne wird der Einkaufswagen mit Chipstüten hervorgerollt.

Laras Vater rauchte exzessiv Cannabis, verließ die Familie, verwüstete Hotels - und wurde irgendwann, in eine abgerissene Gardine gehüllt, in die Psychiatrie gebracht. Er wähnte sich als der jüdische König David. „Hattest du nicht die Musik, hattest du nicht die Familie?“, fragt die Mädchen-Maske traurig, sitzt wie betäubt auf dem Boden, vom Vater verlassen. Hat sich das Trauma der so qualvoll untergetauchten Großmutter auf ihn vererbt? Seit Jahren gibt es Forschungen zur Vererbung von „intergenerationellen Traumata“. Es war erst nach seinem Tod, dass Lara Pietjou in seinem Nachlass Zeugnisse über ihre Herkunft, die jüdische Großmutter fand.

"Mein Vater war König David" (c) Studio Pramudiya

Daniel Schüßler erzählt ihre Geschichte mit wunderschönen Masken, die auf der Bühne eine geradezu heilsame Aura entwickeln: als Platzhalter der Menschlichkeit kreieren sie Nähe und Distanz zugleich, erheben die Einzelgeschichte zum Symbol, auch weil Laras Geschichte stets auf die anderen drei Performer*innen Hanna Held, Dorothea Förtsch, Ingmar Skrinjar verteilt wird. Doch nicht zwangsläufig ist das Trauma des Vaters auf die verlassene Tochter übergegangen. Am Schluss tanzen die Mädchen- und die Vatermaske gemeinsam einen übermütigen, rauschhaften, versöhnlichen Tanz zu Céline Dion: die Überwindung von Schmerz ist möglich und muss eine Identität nicht prägen. „Identität? Die habe ich nur mit dem BVB“, hat Lara Pietjou am Ende trotzig das letzte Wort.

Daniel Schüßler und dem Analog-Theater ist hier ein berührender, kluger und tiefer Abend gelungen. Großartig ist auch, dass man mit seinen Gedanken zu Identität danach nicht allein bleibt: im Garten des Orangerie-Theaters gibt es Chili sin Carne und ein Tischgespräch mit einem täglich wechselnden Gast, der mit Schüßler über oft verblüffende und lebendige Aspekte jüdischen Lebens spricht, dem in Deutschland so oft verkrampft und schuldbewusst begegnet wird. Da spielt Yuriy Gurzhy radikal lustige Mash-Ups von Klezmer, HipHop, Schlager und Evergreens vor, erzählt der Filmemacher Dani Levy, wie man über Hitler lachen kann. Oder eben der Kölner Psychotherapeut Peter Pogany-Wendt, selbst Sohn von Holocaust-Überlebenden, davon, wie man jene „Gefühlserbschaften“ überwinden kann: am allerbesten durch möglichst viel Kommunikation.

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Produktion: ANALOG Theater
Koproduktion: studiobühneköln, Orangerie Theater, NS-Dokumentationszentrum Köln

Von & mit: Lara Pietjou, Dorothea Förtsch, Ingmar Skrinjar, Hanna Held | Textfassung: Ensemble | Regie: Daniel Schüßler | Produktionsleitung: Hanna Held | Bühne & Kostüm: Eva Sauermann | Komposition: Ben Lauber | Technische Leitung & Film: Tommy Vella | Dramaturgie: Laura Becker | Wildcard-Künstlerin (Text): Judith Leiß | Regieassistenz: Rina Schmeing | Outside-Eye: Tim Mrosek | Ton & Video: Michael Vella | Köchin &Tischgespräche: Charlotte Brune | Beratung Barrierefreiheit: Un-Label/Nils Rottgardt | Referenzpersonen Barrierefreiheit & Outside-Eye: Sabine Kuxdorf & Yasha Mueller | Management: Local International | Presse- & Öffentlichkeitsarbeit: neurohr & andrä | Finanzen: Niels Nester

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