Internationales Figurentheaterfestival München 2018
Drei weiße Schirme baumeln wie gigantische Gloschen von der Decke, verbunden mit gespannten Seilen, die vom Boden der Bühne in die Luft ragen. Ein Mann tänzelt zwischen den Seilen, leichtfüßig, obgleich die Last auf seinem Rücken, an seinen Beinen, an seinem Bauch so schwer wiegt. Denn sein Körper ist übersät mit Beulen, Wucherungen, die unter seiner Kleidung zwar verborgen sind, deren unnatürliche Ausmaße sich jedoch sichtbar unter seinem T-Shirt, unter seiner Hose abzeichnen. Er spricht von Zysten. Wie sie jucken und kratzen, seinen Körper belasten und ihn behindern. So sehr, dass er erblindet sei. Deshalb auch die Fliegerbrille auf seinen Augen. Die dicken Gläser mit den schwarzen Rändern bedecken seine obere Gesichtshälfte, saugen sich wie eine zu eng sitzende Taucherbrille an seine Haut. Der Mann zieht an den Seilen, holt die Gloschen aus weißen Schirmen zu sich herab. Das Licht ändert sich. Immer spärlicher beleuchtet ist die Bühne, bis nur noch der Strahl einer Taschenlampe bleibt. Der Mann tanzt von einer zur nächsten Glosche, lenkt das Licht seiner Lampe auf ihre Schirme. Schimmerte da eben der Schatten eines Kopfes durch? Einer Hand?
Der Tänzer wirft einen Blick ins Publikum – und hebt die Glosche.
Dass Ilija Surla nicht allein auf der Bühne bleiben würde, war von Beginn an seiner Performance „Blind“ klar. „Blind“ ist eines von 30 Stücken im Programm des Internationalen Figurentheaterfestivals, das vom 17. bis 28. Oktober 2018 in München stattfand. Figuren sind die Hauptakteure. Das Publikum kommt, um ein Theater zu sehen, das erst im Spiel mit den Figuren seine Bedeutung gewinnt. Esoterisch betrachtet könnte man diese Figuren als Medien interpretieren. Medien, durch welche die Schauspieler auf der Bühne mit dem Publikum kommunizieren, ihre Formen so unterschiedlich wie die Künstler, die sie schaffen.
Eine Kreatur, deren Anblick den Atem raubt
In „Blind“ sind die Figuren lebensgroß und furchteinflößend, hässlich gar. Ihre Hässlichkeit ist Ausdruck einer inneren Krankheit, zum Vorschein gebracht in der Hoffnung des Erkrankten, sie bekämpfen zu können. Einst war Duda Paiva jener Erkrankte, ein brasilianisch-niederländischer Tänzer und Performer, der jetzt zusammen mit Regisseurin Nancy Black seine Autobiografie auf die Bühne bringt. In München spielt Ilija Surla den Protagonisten von Paivas Geschichte.
Ilija Surla also hebt die Glosche – und entblößt eine Kreatur, deren Anblick den Atem raubt. Der Schirm ist nun der ausgestellte Faltenrock einer dürren, halbnackten, kahlen menschengleichen Puppe. Große Brüste heben sich von ihrem ausgemergelten Oberkörper ab. Sie hat eine Wirbelsäule und filigrane Finger, der halbgeöffnete Mund und dicke rote Lippen entblößen Zahnstümpfe, ihre Augen sind kugelrunde Perlen, von getuschten Wimpern umrahmt, und das Licht, das sie reflektieren, haucht der Figur eine Lebendigkeit ein, die unheimlich ist. Leicht lässt sich vergessen, dass Surla neben ihr steht, seine Hand unter ihre Haut aus Schaumstoff fahren lässt, ihre Glieder bewegt und ihr eine Stimme gibt. Den Moment des Unheimlichen krönt Surla, als seine Wucherungen erst zu jucken, dann zu schmerzen beginnen. Sein Körper entledigt sich der Fremdkörper unter seinem T-Shirt. Nichts weiter als Knäuel aus Schaumstoff kommen hervor. Nach und nach jedoch entwirrt Surla die Knäuel. Da ist ein Bein. Da ein Kopf. Da entrollt sich ein Arm. Der Schaumstoffknäuel entpuppt sich als weitere Puppe, grotesk gestaltet mit zu langen Extremitäten. Im Verlauf des Abends wird Surlas Körper den Rest seiner Zysten abstoßen, und die Zysten werden Missgestalten sein, geboren aus dem deformierten Körper ihres Schöpfers, garstige und kannibalisch veranlagte Kreaturen. Puppentheater mag niedlich klingen, aber spätestens mit „Blind“ wird klar, dass es Puppen gibt, die vor Kinderaugen verborgen bleiben sollten …
"Tür zu" – Ariel Doron
Was nicht bedeutet, dass das jüngere Publikum nicht auf seine Kosten käme. „Tür zu“ von dem israelischen Regisseur Ariel Doron ist ein Stück, das seine Zuschauer auf eine Reise in ein verzaubertes Badezimmer entführt. Puppen gibt es hier keine. Stattdessen: Figuration durch Imagination. Der Deckel des Mülleimers wird zur Raumkapsel, im Waschbecken machen sich Gummihandschuhe selbständig und spritzen mit Elmex um sich, Klorollen werden zu Augen eines Duschmonsters, hinter dem Duschvorhang verschwinden Mädchen, und die Kinder in der ersten Reihe lachen sich selbst dann noch schlapp, wenn zum zehnten Mal das Quietsche-Entchen auf den Boden plumpst. Für Erwachsene wäre das Stück ohne die Kinder nur halb so komisch. Die fangen nämlich bald an zu interagieren. Nur zugucken wäre ja langweilig. Sie reflektieren und kommentieren das obskure Geschehen in diesem Badezimmer, etwa, wenn sich Schauspielerin Simone Oswald die Raumkapsel vors Gesicht hält und zu einer Mondwanderin mutiert. „Ernsthaft?“, ist alles, was einem Kind dazu gelangweilt einfällt. Simone – so werden die Kinder sie bald rufen – verharrt laut schnaufend vor dem Unbelehrbaren, ehe sie unbeirrt zu seinem Sitznachbarn weiterzieht. Der steht fasziniert auf und streckt die Hand nach ihr aus.
"Drei Bärtige" – Kaufmann & Co / Molnàr &Bettini
Ein kleines Kind ist auch Teil des Ensembles in dem Stück „Drei Bärtige“. Jenes Kind ist allerdings aus Holz und so klein, dass man es leicht mit der Hand umgreifen kann. Von seinen Schöpfern, den besagten Drei Bärtigen, wird es liebevoll Tubalt genannt. Zusammen mit einer Horde anderer Holzschnitzfiguren steht Tubalt auf dem Tisch, über ihm jene Gestalten, die sich nicht zuletzt durch ihre wuchernden Bärte erhaben und weise genug fühlen, um Gott zu spielen. Hinter diesen Bärten verbergen sich die beiden Puppenspielkünstlerinnen Alexandra und Eva Kaufmann sowie der in Italien lebende Ungar Gyula Molnàr. Regie führte Francesca Bettini. Das Bühnenbild ist bescheiden, außer dem Holztisch ist da nur eine kleine Leinwand hinter den Bärtigen. Diffuse Nebelschwaden ziehen darüber hinweg, nebenher rauscht das Meer. In aller Bescheidenheit ihrer Inszenierung symbolisieren Kaufmann, Molnàr und Bettini den Ursprung allen Daseins, eine philosophisch-politische Gründungsgeschichte mit Figuren aus einem der ältesten und natürlichsten Rohstoffe der Erde. Holz. Handgeschnitzt. Wie Adam nach dem ersten Buch Mose aus Erde erschaffen, sind auch diese Figuren liebevoll geformt aus Material der Umwelt. Der Ziegenhirte und der Esel aus einem Zweig Holz wie Eva aus der Rippe Adams. Doch die Figuren reißen sich von ihren Schöpfern los. Zeit für den Exodus. Tubalt zieht als Schlusslicht einer Karawane gen Meer, immer dem Rauschen nach, hoffend, das Meer werde sich zu ihrer Ankunft zuverlässig spalten, bei Mose hat das ja auch geklappt. Weicht das Meer hier ihren Schritten, drohte zuvor die Sintflut sie einzuholen. Die Figuren waren der Anziehungskraft des Meeres verfallen, allen voran die Tiere pilgerten zielstrebig dorthin, wo sie sich Rettung vom Frevel der Menschen erhofften. Der Esel, die Ziege, die Schafe ersuchten Zuflucht vor der bevorstehenden Naturkatastrophe und Gottes Zorn über die von ihm erschaffene Spezies Mensch. Die Drei Bärtigen beobachten das Geschehen, halten ihre Beobachtung fest auf Stein wie Gott die Zehn Gebote. Der Stein ist ihr biblisches Zeugnis, gleichwohl all das, was dort niedergeschrieben, immer wieder überschrieben wird. Ein größerer Stein wäre klug gewesen. Obwohl Die Bärtigen fähig genug waren, die kleinen Kreaturen zu erzeugen, sind sie nun unfähig, ihr stures Volk vor den Schicksalen zu bewahren, die das Leben für sie bereithält. Kaufmann & Co. gelingt ein poetisches Stück über die Eigenverantwortung des Einzelnen. Großzügiger hätten sie mit den szenischen Bibelbezügen sein können. Zwischen den zähen Streitigkeiten der Drei Bärtigen kommen die nämlich leider zu kurz und lenken von dem, worum es ihnen eigentlich geht, ab.
"Meet Fred" – Hijinx Theatre
Sehnsucht nach Selbständigkeit ist ein Thema, womit sich auch die Kompanie Hijinx Theatre in „Meet Fred“ beschäftigt. Die inklusive Theatergruppe um die britischen Schauspieler Richard Newnham, Daniel McGowan und Regisseur Ben Pettitt-Wade eröffnete das Münchner Festival mit einem halben Meter Stoff. Fred ist der Star des Abends, eine lebenshungrige Puppe mit britischem Akzent erster Klasse. Der kleine Kerl ist genügsam, trägt keine Kleider, hat keine Augen, keine Nase, keinen Mund und will nichts anderes als ein gewöhnlicher Typ sein, mit Häuschen, Freundin, Nine-to-Five-Job und so, gern ein bisschen spießig. Doch dann findet er sich in der Show wieder, die sein Leben sein und in der er nach der Pfeife der Puppenspieler tanzen soll oder muss, er selbst kann ja eigentlich nicht sprechen, er kann ja noch nicht mal atmen geschweige denn, sich ohne Hilfe bewegen. Ein Abhängigkeitsverhältnis, das sich auf das Leben von Menschen mit Behinderung übertragen lässt. Das Stück verfällt dabei keineswegs dem Schwermut. Herrlich unkonventionell und schwarzhumorig beleben die Puppenspieler sowohl Fred als auch ihre Zuschauer.
mit:gefühl
Sie alle hauchen Leben in Objekte, beschwören Lust und Freude am Fantastischen und wecken (Mit)Gefühl für Schaumstoff, Holz und Keramik. „mit:gefühl“ lautete auch das Motto des Münchner Festivals. Ein Festival also mit dem Anspruch, alle Sinne seiner Gäste einzubeziehen und zugleich zu zeigen, was es heißt, wenn nicht alle Sinne verfügbar sind. Wie in „Blind“. Oder „Meet Fred“. Und wenn selbst Erwachsene nach der „Tür zu“-Vorstellung zu Hause in den Abfluss des eigenen Waschbeckens starren und in Erinnerung an das Gummiwesen zu schmunzeln beginnen, haben die Puppenspieler wohl einiges richtig gemacht.
Foto: Patrick Argirakis