Die aktuelle Kritik

Hendrik Quast, Berlin: "Spill Your Guts. Eine Bauchrednershow"

Von Katja Kollmann

Performer Hendrik Quast wird zum Bauchredner und kommt in einen produktiven Dialog mit Colitis ulcerosa, (s)einer chronisch entzündlichen Darmkrankheit. Dabei werden die Berliner Sophiensäle zum fiktiven Wartezimmer, in dem ein roter Riesendarm die Stühle aus dem Zuschauerraum verschluckt.

Diese Puppe hat keinen Namen, aber eine Persönlichkeit. Selbstbewusst okkupiert sie Hendrik Quasts rechte Hand und sieht aus wie eine Mischung aus E.T. und dem Seeelefanten aus „Urmel aus dem Eis“ von der Augsburger Puppenkiste. Sie ist lädiert und hat nur noch ein Auge. Denn sie verkörpert Hendrik Quasts chronisch entzündeten Darm. Um sie adäquat beleben zu können, hat Quast Bauchreden gelernt. Der Unterschied zum herkömmlichen Puppenspiel ist frappierend, da der Bauchredner der Puppe ohne Blickkontakt und mit komplett geschlossenem Mund Leben einhauchen kann. Wenn sie (aus seinem Bauch heraus) spricht, ihr Klappmaul aufreißt, den Kopf zur Seite wirft und intensiv dreinblickt, gibt ihr das ein Eigenleben, das in dieser Ausprägung bei Puppen selten vorkommt, und das wiederum führt sehr schnell dazu, diese Puppe als eigenständiges Wesen wahrzunehmen. 

Der Bauchredner gibt ihr eine etwas hohe und quäkende, aber trotzdem sympathische Stimme und macht sie zum Entertainer der Show. Die Puppe ist Stichwortgeber, sie ist unglaublich schlagfertig – der Performer zieht mit, hält sich aber bewusst im Hintergrund. Als Quast mit ihr auf die erste Reihe zukommt und sich zwischen die Zuschauer:innen setzt, wird das Theater zum Wartezimmer beim Arzt. Das einäugige Wesen, das nicht mehr warten will, bekommt etwas Kindliches, flirtet mit Maria aus dem Publikum und bittet um Streicheleinheiten, die es auch bekommt. Und so schälen sich während der zweistündigen Performance zwei Themenkomplexe heraus: Es wird der Umgang mit Krankheit verhandelt, aber auch der Umgang mit dem Theater und seinem Publikum. Teilweise wird es zur derb-charmanten Publikumsbeschimpfung mit einem sinnlich-dramatischen Höhepunkt: Hendrik Quast mixt dem Premierenpublikum eigenhändig-einhändig Brezeln und Sekt zum Theater-Smoothie. Nach dem Motto: was sich im Darm eh vermischen muss, trifft sich hier schon vorher.

Ist Quast mit seiner Colitis ulcerosa beim Arzt, zieht er sich einen weißen Handschuh an, steckt sich zwei Kulleraugen an die linke Hand und geht zum roten Rohrgestell, das in der Mitte der sonst fast leeren Bühne steht. Herr Dr. Finger lacht die meiste Zeit hysterisch und ist sonst keine wirkliche Hilfe. Beim Thema Stuhlgang landet ein Stuhl krachend im Riesendarm. Quast fläzt sich mit der Darm-Puppe vor dem Rohr und eine Unterhaltung über seltene Orte der „Körperentleerung“ entsteht zwischen den beiden. Es ist einer der intimsten und berührendsten Augenblicke der Performance – getragen von leisem Humor. Dann stellt sich Quast auf das Rohr und schmettert mit einer ziemlich genialen Musical-Stimme das leicht verortbare Lied „Es ist raus!“ Im Dunklen macht er sich mit einer Taschenlampe auf in den Riesendarm zur Untersuchung. Das sind schöne Augenblicke der Leichtigkeit, die konterkariert werden vom Live-Einlauf, dem sich der Performer danach unterzieht.

Quast hat eine Grunddramaturgie, im Spiel ist aber vieles improvisiert. Bestechender Hinweis: im Programmzettel steht, dass die Performance zwischen 90 und 120 Minuten dauern kann. Denn Quast eröffnet den Dialog mit der Puppe und Dr. Finger eine Stunde vor der Vorstellung und führt ihn dann einfach auf der Bühne weiter. Performer und Darm-Puppe, also Wirt und Krankheit, gehen die ganze Zeit respektvoll miteinander um, sodass sich die Illusion einer Symbiose aufdrängt. Eine schöne Vision, die man sich als lebenspraktische Gebrauchsanweisung im Hinterkopf notieren kann.      

 

Premiere: 3. Februar 2022

Text, Performance, Konzept, Regie: Hendrik Quast

Dramaturgie: Alex Henning

Künstlerische Assientenz: Michael Wagenschütz

Puppe, Kostüm, Maske: Christina Neuss

Bühne: Jonas Droste

Sound: Toben Piel

Licht: Maika Knoblich

Beratung Text: Eva-Maria Fahmüller

Beratung Video: Rodrik Biersteker

Dramaturgische Beratung: Marcus Gross

Coach Bauchrednern: Marcus Geuss

Technische Leitung: Hendrik Borowski

Produktionsleitung: Lisa Gehring

Fotos: Florian Krauss

Eine Produktion von Hendrik Quast in Kooperation mit Sophiensäle Berlin, Kampnagel Hamburg, und Künstlerhaus Mousonturm. Gefördert durch die Senatsverwaltung für Kultur und Europa des Landes Berlin sowie aus Mitteln des Hauptstadtkulturfonds. Mit Unterstützung des Residenzprogramms von CIMA Citta (CH). Das Projekt war Teil des Residenzprogramms schloss brölln e.V., unterstützt durch das Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur des Landes Mecklenburg-Vorpommern und dem Landkreis Vorpommern-Greifswald.

1 Kommentar
Peter Waschinsky
14.02.2022

Hendrik Quast

Und hier wieder der Rufer in der Wüste:

Katja Kollmann beschreibt klar und unmißverständlich, was Hendrik Quast macht, nämlich Puppenspiel mit dessen ureigenstem Wirkungsprinzip, der scheinbar lebenden, selbständigen Figur. Fern der Berliner Puppenspielsphäre, ähnlich wie die höchst erfolgreichen Nikolaus Habjan an „Staats“-Theatern in Wien und Graz oder Michael Hatzius im TV. Bei Quast gesteigert durch das „Bauchreden“, was man ja erstmal können muß. Ohne Angst, als Show-Biß abgetan zu werden, wie es seit Jahrzehnten mit Innovationsdruck durch pseudo-intellektuelle Bestimmer passiert. Vielleicht ist deshalb Quasts Text auf seiner Website ein bißchen verquast wie üblich. Egal, sein Spiel ist es offensichtlich nicht.

Die verquasten Berliner Theater: In der Volksbühne kein Volkstheater, im Maxim Gorki nichts von Gorki - und besonder innovativ: Das Zentrale Puppentheater Schaubude mit kaum Puppen... ich wiederhole mich. Das andere und zweitgrößte Puppentheater „Hans Wurst Nachfahren“ wurde 2018 ein weiteres Theater für Tanz und Performance, inzwischen quasi für alles.

Vielleicht ist eine Folge, daß bei Ernst-Busch-Puppe 2021 keine Dozenten für Marionette mehr da waren und Ahnungslose unterrichteten.

Großartiges Puppenspiel dafür kürzlich, auch Schaubudenfern, im Puppentheatermuseum Neukölln. Christiane Klatt machte einen deutlichen Entwicklungssprung und zeigte „Pling! Kasper mach(t) das Licht an“, wo mit Handpuppen nachvollziehbar ü b e r „Digital“ reflektiert wird, aber ohne Digitalkram auf der Bühne, anders als im Dauerversuch der Schaubude, Puppen durch Digitales zu ersetzen.

Puppenspiel nun also erfolgreich auch in den Sophiensälen. Hier hatte sich lange das relativ unkomische „Theater des Lachens“ aus dem Puppentheater Frankfurt/Oder etablieren können, denn nachdem dessen Berliner Ableger zum ... na was wohl?... zum Schauspielunternehmen wurde, gabs gleich Dauerförderung von der Senatsjury.
Ich bekam übrigens aus den Sophiensälen nach einer Bewerbung mit Puppenspiel mal eine Absage mit „wie ich es wagen könne“ zwischen den Zeilen.

Hendrik Quast kam nicht von der Berliner oder der Stuttgarter Puppenspielausbildung, sondern von der inzwischen „angesagten“ angewandten Theaterwissenschaft Gießen. Bei “angesagt“ bin ich eigentlich mißtrauisch, aber: Dort ausgebildet war mir schon 2019 das „Totenerweckungssüppchen“ von Andreu Andreu (Andreas Mihan) aufgefallen, ein sehr puppenspielnahes Objekttheater - d.h. die Objekte wurden wirklich animiert. Das brachte den Kinder-Publikumspreis beim juryfreien OPEN SPACE der SCHAUBUDE, wo jeder darf. Sogar mit Puppenspiel.

(Was mir aber auch auffiel: Viele der Förderer und Kooperanten des Projekts sind sonst wohl wie Sophiensäle betr. Puppenspiel im Denken alter Zeiten befangen: Kunst = Performance, Puppenspiel = Augsburger Puppenkiste)

Zu „Pling! Kasper...“:
https://generalanzeiger-waschinsky.de/index.php/blumen-und-tomaten

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