Internationales Figurentheaterfestival „Blickwechsel“ in Magdeburg
Überbordende Vielfalt zeichnete das diesjährige Internationalen Figurentheaterfestival „blickwechsel“ aus, das von dem nur 33-köpfigen Team des Magdeburger Puppentheaters bereits zum 11. Mal in Magdeburg gestemmt wurde. „Transformation“, das diesjährige Motto, beschreibt dabei nicht nur die permanente Auseinandersetzung der ausgewählten Beiträge mit brennenden gesellschaftlichen Themen, sondern auch die andauernde inhaltliche und ästhetische Wandlung des Genres.
Wie weit ist ein Mensch bereit zu gehen, um seine eigene Schöpfung gelingen zu lassen? Welche Grenzen sollten dabei nicht überschritten werden? Gibt es sie überhaupt? Das Staatliche Puppentheater Plovdiv ging in seinen Festivalbeitrag „Eingemauert“ diesen Fragen nach und wurde dafür stürmisch gefeiert. Grob behauene Granitbrocken, eine schwarze Guckkastenbühne mit einem weniger als einen Meter hohen Sehschlitz dienen den sieben Darstellern vom ältesten Puppentheaters Bulgariens, um das Publikum in ihrer mystischen Performance in den Bann zu ziehen. „Eingemauert“ erzählt eine alte Legende, nach der jede Brücke ein menschliches Opfer fordert, damit sie unvergänglich wird. Manol, der beste Brückenbauer des Dorfes, steht vor der Entscheidung, die Seele seiner Geliebten Neda zu opfern und in das Bauwerk einzumauern. Den von Menschen geschaffenen, vermeintlich unsterblichen Bauwerken steht die menschliche Sterblichkeit gegenüber, mehr noch, der göttlichen Schöpfung wird die des Menschen gegenübergestellt, und das mit großen Fragezeichen. Dieses extreme Breitbandkino zeigt in erster Linie Füße, mit denen die Darsteller in einer atemberaubenden Intensität Geschichten erzählen. Vom zarten Annähern der Geschlechter, ein heiterer Fußflirt auf Steinen, kraftvolle Entschlossenheit der Männer. Und immer wieder betörende, temporeiche Tänze vor, aber auch in dem in die Bühne integrierten Wassergraben. Dazu unzählige Steine, die von den Schauspielern geschlagen werden und neben der kraftvollen, von bulgarischer Folklore beeinflusster Musik den Rhythmus der von Regisseurin Veselka Kuncheva mit äußerster Präzision durchchoreografierten Inszenierung vorgeben.
Ganz anders das absurde Antikriegsstück „Plastic Heroes“ des israelischen Puppenspielers Ariel Doron. Mit handelsüblichem Kriegsspielzeug für Kinder verwandelt er seinen Spieltisch in einer grotesk-komische Kriegsszenerie, bei denen die Plastiksoldaten am Ende zu tanzen beginnen.
Einen regelrechter Coup gelang den Festivalmachern mit der Einladung der britischen Akram Khan Company, die mit einer Deutschen Erstaufführung nach Magdeburg reiste. „Chotto Desh“ erzählt eine autobiografisch gefärbte Geschichte, die Heimat- und Identitätssuche zwischen London und Dhaka des Choreografen Akram Khan, der seinen Kindertraum, nie aufgegeben hat und allen Widerständen zum Trotz Tänzer geworden ist. Nicolas Ricchini tanzt und lässt in seinem traumhaft schönen, fulminanten Solo nicht nur bangladeschisches Verkehrschaos auf der großen Bühne des Opernhauses entstehen. Vielmehr entführt er in einen zeichentrickanimierten Zauberwald im fernen Bangladesch, mit Krokodilen, Bienen, Fischen, Tigern. Dabei verschmilzt er förmlich mit den Bildern, klettert an endlosen Bäumen empor, rettet Fische vor dem gierigen Krokodilsmaul, streichelt Elefanten und stiehlt den verbotenen Honig.
Mit ihrer gefeierten Uraufführung „Das Lumpenpack von San Cristobal“ für das Figurentheaterfestival, ebenfalls ein Höhepunkt des Festivals, zeigte das Materialtheater Stuttgart einen poetisch-beklemmenden Beitrag zur aktuellen Flüchtlingsdebatte. Alberto García Sánchez' Geschichte basiert auf einer Erzählung aus den 1960er-Jahren seines Landsmanns Pere Calders, einem der berühmtesten katalanischen Autoren des 20. Jahrhunderts. Calders, nach dem spanischen Bürgerkrieg selbst für 23 Jahre im mexikanischen Exil, erzählt die Geschichte einer Gruppe Schutzsuchender, die ihr von Überschwemmungen zerstörtes Dorf verlassen und ausgerechnet auf einem Friedhof, dem sinnbildlichen Ort des Friedens, Zuflucht finden. Dort richten sie sich häuslich ein, Wäsche wird gewaschen, Tomaten gezogen, Kinder gezeugt. Die Reaktionen auf die Zugezogenen sind unterschiedlich: während sich die einen freuen über die Belebung des Ortes der Stille oder auch nur über die ungewöhnliche Ordnung fürchten andere um die Totenruhe. Sánchez setzt in seiner Mischung aus Tischpuppenspiel, Erzählung und Schauspiel für das vierköpfige Ensemble nicht auf drastische Bilder, um vordergründige Aktualität herzustellen, sondern erzählt äußerst ruhig, fast dokumentarisch die Geschichte der Gestrandeten.
Das diesjährige Festival fokussierte mit zahlreichen Gastspielen nicht nur Figurentheater aus Osteuropa, sondern im Rahmen seines Projekts AUFBRUCH mit mehrtägigem Symposium und Werkschau auch die kommunalen Ensemble-Puppentheater Ostdeutschlands. Darunter konventionell inszeniert, aber vor allem durch das mit luftigen weißen Tüchern behangene wandelbare Bühnenbild von großer Leichtigkeit der „Don Quijote“ mit live gespielter Musik Georg Philipp Telemanns vom Theater des Lachens aus Frankfurt/Oder.
Leider wurde bei dieser Werkschau nicht immer Festivalqualität erreicht, so beim Gastspiel des Deutsch-Sorbischen Volkstheaters. Die Dramatik der von den Bautzener Puppenspielkollegen ins Rennen geschickten Inszenierung „Schwanensee“ beschränkte sich auf die Ballettmusik Tschaikowskis, die zu mehr oder weniger ausdruckslos umhergetragenen Schwänen vom Band lief. Das trägt einen Abend leider nicht.
Das aber soll den Eindruck einer schier grenzenlosen Bandbreite zeitgenössischen Figurentheaters keinesfalls schmälern. Vielen Produktionen des Festivals inklusive der beiden populären Auftaktnächte „la notte“ eigen ist die spielerische Aufhebung von Genregrenzen, der phantasievolle Umgang mit Körpern, Puppen, Alltagsgegenständen und modernen Medien und die unbedingte Reibung an aktuell brennenden Themen der Gegenwart.