Die aktuelle Kritik

Musiktheater im Revier: „The Black Rider. The casting of the magic bullets“

von Pia Soldan

Wenn der Teufel eine Puppe ist, wen oder was kann er dann noch lenken?

Die Frau des Autors ist tot. Als Roland Barthes literaturtheoretisch den Autor tötete, hatte William S. Burroughs ihm bereits sehr real und konkret vorgegriffen, indem er seinen eigenen Tod im Suff auf seine Ehefrau übertrug: Er erschoss sie beim Nachspielen einer Wilhelm-Tell-Szene. Hier hebelte er Barthes derartig aus, dass seine Person von seinem Black Rider kaum noch zu trennen ist. Denn dass die Kugel des Protagonisten Wilhelm ins Herz der Geliebten dringt, können wir, die wir uns im Theatersaal des Musiktheaters im Revier in Gelsenkirchen versammelt haben, wohl kaum stoisch dem Zufall zuschreiben.

Und Regisseurin Astrid Griesbach gibt uns Recht, indem sie ihrer Schauspielerin einen riesigen goldenen Apfel in die Hand drückt, den diese sich auf den Kopf legt, um durch Hauptdarsteller Sebastian Schiller – die Besetzung durch einen Schauspieler mit diesem Namen nehmen wir nun doch einmal als Zufall an – mit einer ebenfalls goldfarbenen riesenhaften Flinte auf sich schießen zu lassen. Doch haben wir es hier nicht mit Käthchen zu tun, die im Tellschen Spiel ihr Leben riskiert. Und hier bricht Griesbach mit dem gradlinigen Nacherzählen – nicht zum ersten Mal.

Zwischen Party und Bedrohung

Was auf Lisette Schürers Bühne geschieht, wirkt als permanente Brechung. Bunte riesenhafte Requisiten, Plüschtiere und aufgeblasene Plusterhosen treffen auf die stets etwas schräge Jahrmarkt- und Zirkusmusik aus dem Orchestergraben, die hier im doppelten Sinne wirkt. Stets präsentieren sich die Bilder von Zuckerwatte und Riesenrad transparent vor dem Gruselclown, der mal stärker in den Vordergrund tritt und sich mal mehr hinter seiner dicken roten Nase zurückzieht. Die sich tatsächlich auf der Bühne materialisiert – als Galeonsfigur des Höllenmauls, aus dem der Teufel in Wilhelms Leben gelangt. Zwischen Mickey-Mouse-Ohren, die mit ihrem Schneckenmuster sowohl an Kirmeslollies erinnern als auch die immer wiederkehrenden rauschhaft neonfarbenen Projektionen an der Bühnenrückwand aufgreifen, entsteigt er den Tiefen des Grauens.

Vielmehr wird er entstiegen, denn als einzige Figur an diesem Abend ist Satan gänzlich Puppe, geführt von bis zu fünf Spielenden, seinen Buffoni. Winzig erscheint er in ihren Armen, die ihn tragen und führen, am Leben halten und emporheben. Ohne menschliches Gesicht, erstarrt in freudlosem Grinsen, ist er darauf angewiesen, dass sie durch die richtige Gestik seine Herrschaft an den Tag legen. In vollkommener Abhängigkeit von ihnen regiert er sie, seine Blödmänner und Clowns (Englisch „buffoon“) und Hanswurste (Italienisch „buffone“), omnipräsent, auch wenn er selbst jenseits der weltlichen Sphären weilt.

Der destruktive Rausch

Immer wieder erinnert dieses ambivalente Verhältnis der Kontrollinstanzen an das zwischen einem Rockstar und seinen Fans, ohne die sein Stagediving, das ihn über sie erhebt, niemals möglich wäre. Schwebend und dabei lässig auf der Seite liegend lässt Beelzebub sich über die Bühne tragen, bis seine Lenkungsinstanzen seine Hufe auf die Bretter setzen und ihn zum Frontmann werden lassen, der in seinen Bewegungen erstaunlich deutlich an Freddy Mercury oder Dave Gahan erinnern.

Es ist der Rausch, der sie trug und zerstörte und es ist der Rausch, der Satan trägt, der mit ihm verschmilzt, wenn Wilhelm noch eine und noch eine Freikugel verlangt, in dem Wissen, dass die siebente der Teufel lenkt und „my bullets aren’t for free“. Es ist der Konkurrent, der mit seinen Puppenfüßchen bedrohlich die Trommel schlägt, Robert, der den Geliebten das Verderben spielt. „Ich treffe auch, wenn nichts zu sehn‘ ist, ich kenn‘ mich aus mit einer Frau“, sind die öbszönen Worte des Jägers, den Vater Bertram für seine Tochter Käthchen erwählt, die Puppenbeinchen über das Puppentheater baumelnd, indem die junge Frau ihren Wilhelm bezirzt. Mutter Anne, ebenfalls Puppe und neben ihm sitzend, bricht eine Lanze für das Herz im Spiel um die Ehe. Doch im Puppentheater gefangen steht die Tochter trotz allem unter der Fuchtel ihrer Eltern, die oben auf dem Puppentheater sitzend selbst mit ihrer Bestimmung brechen.

Zwischen Käthchens menschlichem Scheitel und den toten Füßen ihrer Eltern ist der Ort bezeichnet, der Käthchens Leben bestimmt. „Crystal Pool“ heißt das Theater, in dem sie sich bewegt, denn was für Burroughs Alkohol und Heroin waren, ist heute wohl eine Substanz, deren entstellende Wirkung noch zu den harmloseren Folgen gehört. In der Unendlichkeit der Abhängigkeitsspirale gefangen, kann Wilhelm ihm nicht entrinnen, dem Zwang, Käthchen zu heiraten, dem Zwang, das Schießen zu lernen, dem Zwang, sich und sein Glück in die Puppenhände des Teufels zu legen.

Die Symbolik der Materialien

Folgerichtig tragen die Buffoni riesige Rosen wie Waffen auf die Bühne, zielen mal mit den roten Blüten, Schultern mal den grünen Lauf. Denn es ist die materialisierte Liebe, die den Tod bringt. Auf Schaukeln sitzend, die die Buffoni ihnen bereiten, besingen die Liebenden ihr Glück und für einen Moment bleiben die Rosen das althergebrachte Liebessymbol. Doch eine ebenso sanfte wie konkrete Ahnung zieht sich durch das Paar, als Käthchen mit ihrer Schaukel gen Himmel entschwindet.

Aber Wilhelm ist im Rausch und genau dort bleibt er auch. Geht die Flinte, die ihn auf dem Bühnenboden stehend überragt, zunächst auch mit ihm spazieren, scheint auch der Teufel in ihr zu stecken, dessen Puppengestalt noch fest in den Köpfen sitzt, so rockt Wilhelm bald die Kirmes. Während die Buffoni mit Poolnudeln auf die Bretter schlagend Schüsse knallen lassen und die Mitglieder der Neuen Philharmonie Westfalen Drehorgelsounds aus dem Orchestergraben in den Theatersaal steigen lassen, stürzen die Riesenrosen und Plüschtiere nur so auf Wilhelm herab. Für einen kurzen Moment ist er der Schützenkönig des Abends.

Doch als Käthchen (Annika Firley) diesen Triumph verfolgt, fällt „der Schatten eines großen Vogels […] auf mein Gesicht. […] Wer ist der Dritte, der mit uns geht?“, fragt sie sich und auch das Plüschhündchen, das sie von Beginn an im Arm hält, beginnt in Firleys Händen zu zittern. „Der Schatten eines großen Vogels fällt auf mein Gesicht“ und schon bald bewegen sich riesige Vogelköpfe mit Menschenleibern über die Bühne. Gebückt über die Bretter wandelnd und schreiend sind sie die einzigen Figuren an diesem Abend, die niemals durch Niedlichkeit gebrochen werden. Grausam beeindruckend lassen sie die Alpträume der Kindheit aufleben. Aber Käthchen fügt sich in die Tradition ihrer Jägerfamilie, nicht ahnend, dass ihr Geliebter bei seinen unbeholfenen Schießübungen bald ihr Haustier töten wird: „Der Mann im Wald, die Frau daheim, so soll es sein, ich will nicht weiter fragen.“

Die Befreiung vom Puppenspiel

So hat Käthchen auch keinen Blick für die weiße Rose, die der Teufel hereinträgt, die Totenblume, die einen harten Kontrast zu all dem Kirmeszeug aufmacht, das bereits auf der Bühne verteilt ist. Viel zu groß für sein Körperchen kämpft Satan sich ab mit seiner eigenen Symbolik, getragen und gestützt von seinen Buffoni. Niemand ist heute Abend fremdbestimmter als der Teufel, niemand so mächtig wie er. Es ist ein hierarchisches Bündnis, das er mit seinen menschlichen Puppenvertreter*innen eingegangen ist, mit Käthchens Eltern und Robert, so niedlich mit ihren kleinen fremdbestimmten Gliedern. Doch was geschieht, wenn die Spielenden sich den Puppen entziehen, wenn Anne ihr geblümtes Schürzchen ablegt, Bertram seine Uniform und sich die Spielenden von ihren Knien auf ihre menschlichen Füße erheben? Was bleibt, sind ihre Gesichter, die sie ihren nur aus Rumpf und Extremitäten bestehenden Puppen geliehen haben. Befreit tanzen sie sich das Puppenspiel vom Leib.

Doch die Befreiung des Bösen bedeutet für Wilhelm und Käthchen das totale Verderben. Wie es Crystal so mit sich bringt, kann Wilhelm nicht aufhören, er muss das Schießen besser und besser beherrschen, mit noch einer und noch einer Freikugel des Teufels. Doch die siebente – so lautet die Vereinbarung – gehört nun einmal der kleinen Puppe in glitzernden Strumpfhosen und mit langen Hörnern auf dem Kopf, und bereits gewandet in ein ausladendes Brautkleid, überlebt Käthchen ihre eigene Hochzeit nicht.

Die Fiktion einer Fiktion

Nun gehört Wilhelm endgültig zum Gefolge. Den Tiefen der Bühnen entnehmen die Buffoni schwarze Luftballons, verteilen sie unter sich und legen auch Wilhelm einen in die offene Hand. Brav reiht er sich ein in ihren Zug.

Doch schon bald hüpft Käthchen wieder über die Bühne, fröhliche Zirkusmusik erklingt, sie ist Teil einer großen Gruppe von Figuren, Gut und Böse waren einmal und sie bedanken sich wild beim Teufel. Erneut Tom Waits‘ The Black Rider anstimmend erinnern sie daran, dass da etwas war, dass es schon zu Beginn hieß: „Come on with the Black Rider / We’ll have a gay old time“ und all das Drama schiebt sich in die Fiktion einer Fiktion und vielleicht hatten wir es ja hier nur mit einer ebenso gigantischen wie großartigen Zirkusvorstellung zu tun.

 

Foto: Björn Hickmann

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