Puppentheater Magdeburg: „Ein neues Haus für M.“
„Laute Stimmen, leise Stimmen, Stimmen im Stimmbruch – und viele, viele Stimmen mehr.“ Das Licht erlischt und hüllt das Gebäude aus bunten Knetmasseobjekten und Aktenkartons ins Dunkel. Der Traum von „Ein neues Haus für M.“, in dem viele Stimmen unterkommen, ist aber nicht ausgeträumt, nur weil das betreffende Theaterstück endet. Dieses hat die Idee eines Synagogenneubaus mit den Mitteln des dokumentarischen Materialtheaters in den Raum geworfen. Und damit einen cleveren Zugang gefunden, um sich mit jüdischer Religion und Kultur zu beschäftigen, ohne in gängige Muster zu verfallen und Klischees zu bedienen, wenn es um die „jüdischen Mitbürger“ geht, wie es so oft und falsch heißt.
Denn dass „jüdisch“ kein Marker für das Andere, aber auch kein Einheitslabel ist, stellen der Spieler Kaspar Weith und die Spielerin Luisa Grüning sofort klar. Es geht in ihrem Traum vom neuen Haus für Magdeburg um ein Dach für viele, vielleicht sogar für alle. Die beiden in Arbeitsoveralls Gekleideten imaginieren, es gäbe einen Architekturwettbewerb für einen Synagogenneubau an der Elbe – und sie bewerben sich. Da sie vom jüdischen Leben wenig Ahnung haben, sprechen sie mit verschiedenen Menschen, die diesem zugehören, und bringen deren Perspektiven auf die Bühne. Dabei hilft ihnen zweierlei Material.
Es ist natürlich zuerst das dokumentarische Material, mit dem sie arbeiten. Neben historischen Fakten bringen sie Blickwinkel von fünf Personen ein, mit denen das Regieteam (künstlerische Leitung: Miriam Locker) Gespräche geführt hat. Sie alle sind jüdisch, haben verschiedene Herkünfte und sie eint, dass sie Teil der Magdeburger Stadtgesellschaft sind. Jedem dieser Menschen sind andere dreidimensionale Formen aus Knetmasse zugeordnet, etwa blaue Pyramiden, grüne Zylinder oder rote Kugeln. Immer wenn von einer Person gesprochen wird, nehmen die Spielenden aus Aktenkartons diese Formen hinaus und hantieren mit ihnen. Da wird auf einem Tisch eine Art Familienaufstellung erprobt. Die Pyramiden werden leicht aneinander gekippt und zu Meereswellen gereiht, um das Schwarze Meer anzudeuten. Bälle kullern über den Boden, als es um versprengte Schicksale geht – einer wird zerquetscht, als der Holocaust thematisiert wird. Komplett leer räumen die beiden den Bühnenraum, um dem Terroranschlag auf die Synagoge in Halle vor fast genau zwei Jahren zu gedenken. Denn leider, das machen sie mit dem ruhigen Zitieren von Zeugen im Prozess gegen den Täter deutlich, gehört auch Antisemitismus zum jüdischen Leben in Deutschland.
Klischeefrei wird dessen Vielfalt kaleidoskopartig vorgestellt. Manchmal zieht sich die Produktion etwas, weil natürlich keine große Geschichte erzählt wird und ein dramatisch-dramaturgischer Bogen fehlt. Man merkt etwa, dass mal ein Lied nur eingebaut wird, um etwas Abwechslung zu bringen. Das sind Lässlichkeiten, über die hinwegzusehen ist. Denn ja, man muss gut zuhören. Aber dann erlangt man einen Einblick in die Vielstimmigkeit und kann erfassen, dass „das Jüdische“ so wenig ein Monolith ist wie „das Deutsche“ – was einander sowieso nicht ausschließt, auch wenn die Rede von den „jüdischen Mitbürgern“ das immer suggeriert. Und wenn am Ende aus vielen bunten Bausteinen ein „Neues Haus für M.“ immerhin als Modell und temporär entsteht, ist das ein schöner Traum. Ob es jemals kommt, ob es ein Ort jüdischer Religion und Kultur werden kann, noch offen für alle, ohne Sicherheitsschleusen und Polizeischutz, muss sich zeigen und wäre eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Auch das macht diese konzentrierte wie materialreiche Produktion deutlich. Die Zukunft liegt im Dunkeln, und die lässt sich gestalten wie Knetmasse.
Uraufführung: 16.10.2021
Künstlerische Leitung: Miriam Locker
Regie: Team
Ausstattung: Klemens Kühn
Musik: David Kirchner
Dramaturgie: Sofie Neu
Spiel: Luisa Grüning, Kaspar Weith
Fotos: Viktoria Kühne