Die aktuelle Kritik

Theater Waidspeicher Erfurt: „Atlas der abgelegenen Inseln“

Von Michael Plote

Inselhüpfen durch Raum, Zeit und Geschichte

Eine blaue Wand. Ein blankgeputzter Tresen. Drei Schauspieler. Eine Puppe. Eine Reise: Inselhüpfen. Eine Premiere im Puppentheater Waidspeicher in Erfurt: „Atlas der abgelegenen Inseln“ nach Judith Schalanskys preisgekröntem Bestseller, empfohlen für junge Zuschauer ab 14 Jahre. Die Autorin sitzt im Premierenpublikum.

Regisseur Christian Georg Fuchs und Dramaturgin Susanne Koschig haben zwölf von „Fünfzig Inseln, auf denen ich niemals war und niemals sein werde“, so der Untertitel des Buches, für ihre 75-minütige Bühnenversion ausgewählt. Im Rauschen von Meereswellen toben und taumeln, liegen und lieben, fliegen und faulenzen Abenteurer und Aussteiger, Entdecker und Erlebnishungrige. Judith Schalansky nimmt ihre Leser mit auf eine Weltreise. Das Theater Waidspeicher verführt das Publikum auf Inseln und zu Menschen, manchmal getrieben wie bei einem Speeddating, dann wieder Zeit lassend für assoziative Bilder im Kopf der Betrachter.

 

Zwölf Inseln, zwölf Geschichten

Er schürft nach Gold. Auf den Tresen regnet es jede Menge Sand und vielleicht ein paar Nuggets. Der Schatzsucher August Gissler gräbt die Kokos-Insel im Nord-Pazifik um. Hier lebt ja eh kein Mensch oder Einsiedler. Jede Szene wird auf der blauen Panoramawand mit eingeblendeten Texten eröffnet: Inselname, Lage, Längen- und Breitengrade, Fläche und Einwohnerzahl. Wer hat hier wann was erlebt, entdeckt oder erlitten? Die jeweilige Insel erscheint virtuell als Punkt, flächige oder dreidimensionale Landmasse. Die mediale Bühne haben Raphael Köhler und Christian Scheibe entwickelt.

Eine Figur hüpft über die Inseln, durch Raum und Zeit. Die sehr bewegliche Handpuppe trägt die Gesichtszüge der Autorin Judith Schalansky. Hm. So überraschend ist die Idee eher nicht. Die Puppe (von Peter Lutz) wechselt mit den Inseln und Figuren ihre Kleider (Kostüme Gisa Kuhn) – und bekommt während der Reisen einen Zwilling, weil es sonst so einsam um sie wird.

Die drei Spieler Heinrich Bennke, Paul Günther und Maurice Voß erscheinen in ihrer blauen Kluft mit schwarzer Strickmütze wie Klone. Sie führen die Puppe, erzählen und spielen die Geschichten, die den eigentlichen Zauber des Buches und des Abends im Puppentheater ausmachen, ausmachen sollen. Das gelingt mal mehr, mal weniger bezaubernd. Der tote Napoleon auf St. Helena wird im Marschschritt und mit der Marseillaise auf den Lippen exhumiert. Das Klischee langweilt. Der Polarforscher Julius von Payer müht sich auf Skiern über die Rudolf-Insel. Alle drei Puppenspieler bewegen die Figur und lassen den Entdecker sprechen. Die Charaktere und die kurzen Geschichte verschwinden so schnell, wie sie aufgetaucht sind.

Im Gedächtnis bleibt die Pilotin, die Flugpionierin Amelia Earhart. Sie absolvierte als erste Frau den ersten Transatlantik-Flug 1928. Sie wollte 1937 in einem Nonstop-Flug die Erde umrunden und fand nach 20 Stunden Flugzeit nicht ihr Ziel, die Howlandinsel im Nordpazifik. Die kurze Geschichte erzählen die drei Spieler im Chor, dramatisch aufgeladen und berührend. Die Puppe im Pilotenkostüm hinter der Flugzeugsteuerung wird lebendig, fast menschlich, ihre Angst vor dem Absturz macht betroffen. Die an- und abschwellenden Motorengeräusche unterstützen diese emotional und ästhetisch beeindruckende Szene.

Die poetische Sprache des Buches blitzt in der einen oder anderen Szene durch, etwa wenn eine Insel als „ein Herz mit Adern aus Flüssen“ beschrieben wird. Nachdenklich stimmt der Vogelkundler von Berlepsch, der auf der Bäreninsel Vögel abschießt, um sie zu schützen und zu erforschen. Freizügig kommt die Puppe, so ganz ohne Kostüm, dem Lebemann Robert Frisbie vor die Augen. „Sex ist ein Spiel“ auf dieser abgelegenen Insel. Der junge Franzose, der eine seltsame Sprache spricht, bekommt seine Frau, die auch diese Sprache spricht. Was für eine komische, berührende Schluss-Szene, die auf der Insel Rapa Iti spielt. Und genau genommen als eine Metapher für kulturelle Vielfalt weltweit gelesen werden kann.

Starker Beifall des Premierenpublikums. Die Autorin schien zufrieden mit der Inszenierung.

 

Nächste Vorstellungen: 28.02. | 29.02. | 03.03. | 10.03. | 18.03.2020

www.waidspeicher.de

Szenenfotos: Lutz Edelhoff

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