Die aktuelle Kritik

Puppentheater Magdeburg: "Der Drache"

Von Tobias Prüwer

„Der Drache“ handelt vom Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft, von Freiheit, Zwang und Selbstaufgabe; kurzum: Mensch und Masse oder Masse und Macht – und wie man sich redlich verhalten soll. Das Magdeburger Puppentheater verlegt Jewgeni Schwarz‘ politische Märchenparabel symbolisch ins Paradies – soll der Stoff doch aktuell, aber nicht akut, also unmittelbar schmerzhaft sein.

Die Heldin Lanzelot tötet auch hier den diktatorischen Drachen, der die namenlose Stadt beherrscht und regelmäßig Jungfrauen als Tribut fordert. Sie rettet unter eigener Todesgefahr das potentielle Opfer Elsa samt Stadtgesellschaft. Die Bürger*innen wollten aber gar nicht gerettet werden, haben sie sich doch mit der Tyrannei arrangiert und tun in Person des Bürgermeisters alles, um Lanzelot zu sabotieren. Die Heldin trumpft dennoch auf, nur um nach einjähriger Genesung zu erleben, wie sich die Menschen ins Regime eines neuen Despoten fügen. Sind sie überhaupt fähig für ein Leben in Freiheit und Mündigkeit? Ein Stück der Stunde, das diesen unruhigen Zeiten angemessen ist. Und doch soll es als Sommertheater-Spektakel auch unterhaltsam sein.

"Der Drache" (c) Viktoria Kühne

Das gelingt Regisseur Moritz Sostmann durch zweifache Entrückung beziehungsweise Abstraktion. Zum einen findet das Freiluftspiel im Kreuzgang eines ehemaligen Klosters – heute: Kunstmuseum – statt. Diese einstigen Orte der spirituellen Kontemplation symbolisieren das Paradies, sind also jenseitige Projektionen. Zweitens dient natürlich das Figurenspiel als großer Vermittler und funktioniert als solches über weite Strecken hervorragend. Genau genommen immer dann, wenn gespielt wird.

Die Regie greift den sakral-räumlichen Rahmen auf und lässt an einer Abendmahl-Tafel zehn Nonnen auftreten, die immer wieder wechselnd die verschiedenen Gliederpuppen führen. Da sie alle im gleichen weißen Habit erscheinen, gelingen diese Wechsel mühelos und die Zuschauer*innen-Konzentration ruht auf den Figuren. Die Tafel fungiert dabei als Tisch und Bühne zugleich. Viel Beiwerk braucht es nicht, weil der Hintergrund mit romanischen Rundbögen malerischer ist als jede Kulissenmalerei. Dass die Nonnen mal aus der Rolle fallen oder einen Spruch machen, gefällt als unterhaltsames Beiwerk. Wie die Textfreiheiten, die sich die Spielenden nehmen, oder Regieeinfälle, etwa wenn die manchmal als Quasi-Erzählerin auftretende Katze „Memory“ aus „Cats“ intoniert, gefolgt von Puhdys‘ „Die Legende von Paul und Paula“ aus den Mündern des Handwerkerchors: „Geh zu ihr und lass deinen Drachen steigen.“

"Der Drache" (c) Viktoria Kühne

Die Figurenführung ist – wie bei der Magdeburger Institution gewohnt – exzellent. Meist sind es drei Spielende, die die Charaktere lebensecht animieren. Weil es ein Märchen ist, können diese manchmal auch schwerelos in der Luft schweben. Und fantastisch sieht es aus, wenn sich die unsichtbare Heldin Lanzelot samt transparentem fliegenden Teppich in die Höhe erhebt. Man sieht vier Spielende, die behände mit Nichts agieren und kann die Bewegungen von Figur und Fluggerät sofort nachvollziehen. Das ist famos, besonders die erste Hälfte des Abends ist von dieser Spielkunst getragen.

Die Stunde nach der Pause fällt jedoch insgesamt zu textlastig aus, besonders weil die Drachentötung vollständig im ersten Teil passiert, man aus der Spannung zum Kaltgetränk entlassen wird und nun einem Vortrag lauschen muss. Aus Figuren- wird Aufsagetheater, das, was man im Schauspiel „An der Rampe stehen“ nennt. „Wir müssen den Drachen in uns bekämpfen.“ Fast lapidar fallen die Zeilen gen Ende des Abends, die doch zu dessen wichtigsten gehören. Zumindest, was dessen Botschaft angeht. Der Bürgermeister ist jetzt Präsident und lässt sich feiern. Die nun als Kellner*innen auftretenden Spielenden haben alle Mühen, ein bisschen Leben in ihre zum Sprechpuppen-Dasein verdonnerten Kompliz*innen zu bringen. Animierte Projektionen auf die Klosterwand wie Graffiti, Rosenranken und Blitzeinschläge gleichen diese statischen Momente aus. Der Eindruck von Länge verschwindet jedoch nicht ganz. Auch, weil das Ende dieses Märchens ein bisschen zu süßlich daherkommt: Als ob nie etwas war, spielen und faulenzen alle Stadtbewohner*innen gemeinsam auf grüner Wiese, grasen quasi in Seeligkeit. Aber so mögen sich ja paradiesische Zustände wirklich zutragen und der Abend endet im Kreuzgang ins Glück.

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Jewgeni Schwarz: Der Drache

REGIE Moritz Sostmann

BÜHNE Christian Beck

PUPPEN Hagen Tilp

KOSTÜM Lise Kruse

VIDEO Stefan Haberkorn

DRAMATURGIE Petra Szemacha

PRODUKTIONSLEITUNG Frank Bernhardt

SPIEL Luisa Grüning, Linda Mattern, Anna Wiesemeier, Freda Winter, Richard Barborka, Florian Kräuter, Lennart Morgenstern, Leonhard Schubert, Danil Shchapov, Kaspar Weith

1 Kommentar
Peter Waschinsky
14.08.2023

Der Drache Magdeburg

Beeindruckt (ebenso wie frustriert - in Hinblick auf den Vergleich zur Berliner Situation) war ich von der Begeisterung der Magdeburger Zuschauer. Die 20 Vorstellungen im großen Klosterhof waren seit Wochen ausverkauft und die Zustimmung kippte auch nicht trotz streckenweiser Langeweile. Hier zahlt sich Kontinuität aus.
In Berlin experimentelt das Genre auf Sparflamme herum, es kommen die Freunde der jeweiligen, nur kurz spielenden Formation. Ensemblearbeit wird vermieden.
Der Drache: In der legendären, ewig lange gespielten Benno-Besson-Inszenierung von 1966 am Deutschen Theater fand ich den 2. Teil deutlich schwächer, die realen Drachen existierten ja noch. In meiner Halle-Inszenierung in den 90ern ging dagegen das Risiko auf, NUR den 2. Teil zu spielen- die DANACH-Situation war in der Ost-Realität deutlich als Bezug gegeben. Und Autor Jewgeni Schwarz‘ vorausschauendes Genie - das Stück entstand 1942! - wurde deutlich.
Jetzt in Magdeburg erinnerte mich der 2. Teil an die Situation im (Ost-)deutschen Puppenspiel, wo wenige und eher kleine Drachen die Meinungsfreiheit kleinmachen und Kollegen eher noch mitziehen mit „Klappe halten!“, besonders gern die Jungen.
Hirngewaschen? fragte ich mich auch, als erst eine Szene aus meinem KASPARETT von den Puppenspielstudenten 2022 frenetisch bejubelt, die ganze Vorstellung des Stückes (1979 - jetzige Neufassung bis in die Gegenwart geführt) dann aber von ihnen ignoriert wurde. Sind sie das Gegenstück zu den Klima-Klebern? Belästigen zwar keine harmlosen Normalbürger, nehmen aber auch die kleinen Drachen hin, die ihnen ihre Puppenspielerzukunft latent verbauen. Egal, weil die meisten eh nur Schauspieler sein wollen?
„Klappe halten“ äußert sich nicht zuletzt auch darin, daß es hier im Fidena-Forum zu den durchweg freundlichen Rezensionen seit langem keine Kommentare mehr gibt.
Bringt eh nix?

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