Musiktheater im Revier, Gelsenkirchen: „Der Mensch erscheint im Holozän“
Es gibt mindestens neun verschiedene Arten von Donner. Zumindest unterscheidet Herr Geiser zwischen neun Donner-Arten. Der Protagonist der 1979 erschienenen Erzählung von Max Frisch lebt allein in einem kleinen Schweizer Bergdorf und verfolgt die seit einiger Zeit anhaltenden Unwetter.
Auch im Kleinen Haus des Musiktheaters im Revier donnert es. Auf einem breiten hölzernen Podest stehen sieben Spieler*innen in dunkelgrünen Kitteln und Schutzbrillen und erzeugen gewissenhaft präzise Geräusche mithilfe diverser Objekte. Der Knall-Donner: eine Poolnudel, die einmal kräftig auf den Boden geschlagen wird. Der Stotter-Donner: klappernde Gebisse, in eine schräg gehaltene Metallwanne geworfen. Der Knatter-Donner: ein knackender verdrehter Arm einer Schaufensterpuppe.
Das Wetter bestimmt den ersten Teil von Pablo Lawalls Inszenierung nach Frischs „Der Mensch erscheint im Holozän“ und Joseph Haydns Oratorium „Die Schöpfung“, einem – so der Untertitel – Konservierungsversuch. Das Ensemble aus den drei Schau- und Puppenspieler*innen Gloria Iberl-Thieme, Daniel Jeroma und Merten Schroedter, den Sänger*innen Timothy Edlin, Tobias Glagau und Scarlett Pulwey, sowie dem Pianisten und musikalischen Leiter Mateo Peñaloza Cecconi präsentiert die Versuchsergebnisse.
"Der Mensch erscheint im Holozän", Daniel Jeroma, Tobias Glagau, Scarlett Pulwey. Foto (c) Bettina Stöß
Zu Anfang aus einem Berg am linken Bühnenrand gekrochen, noch mit neutralen Masken vor dem Gesicht, scheinen hier prototypische Menschen das Verhältnis von Natur und Mensch zu untersuchen. Fast beiläufig erzählen sie von Herrn Geiser, einem alten Mann, der wissenschaftliche Texte und Bilder aus Büchern ausschneidet und an der Wand sammelt, Wissen konserviert, während es im Tal unentwegt regnet und seine Demenz immer weiter fortschreitet. Passend zu dieser Figur haben Selma Lindgren und Xandi Vogler von der Gruppe Lex Hymer Bühne und Kostüme entworfen. Die Spieler*innen tragen biedere, förmliche Kleidung, die Ungereimtheiten aufweist: Manche Oberteile sind auf links gezogen, Cecconi trägt als Pianist eine Hose, an der hinten eine zweite Hose hängt, deren Beine so zu Schwalbenschwänzen eines Fracks werden. Der Raum ist Museum und Werkstatt-Labor in einem. Vor dem Podest stehen schlichte, museale Sitzbänke, auf dem Podest ein Rundhorizont mit schwarzweißem Gebirgsgemälde (oder Höhlenmalereien?), ansonsten viel Platz zum Beobachten, Experimentieren und Stauraum für allerlei Alltagsgegenstände.
Dabei liegt der Fokus meist auf den klanglichen Qualitäten dieser Objekte, die weniger als Handelnde denn als Werkzeuge auftreten. Und doch gibt es, neben dem Maskenspiel, auch Momente von Figurentheater im engeren Sinne: ein Dino aus Kleidung an der Wäscheleine erwacht zum Leben; Herr Geiser formiert sich für eine Szene aus Hut, Bart, Kerze und Regenschirm-Beinen; zwei Schaufensterpuppen (ideale Stellvertreter des Menschen), Adam und Eva, kommen sich singend näher und in Versuchung, eine absurd-komische Szene.
"Der Mensch erscheint im Holozän", Ensemble. Foto (c) Bettina Stöß
Früh fällt der Satz: „Herr Geiser hat Zeit.“ Die Spieler*innen auch. Der 140-minütige Abend (inkl. Pause) lässt sich angenehm unaufgeregt Zeit, ohne sich zu ziehen. Das liegt vor allem daran, dass trotz der Ruhe viel passiert. Eine szenische Situation eines Seniorenheims, Videoprojektionen, zwischendurch Gesang, gefolgt von einer weiteren Versuchsanordnung über verschiedene Arten von Regen (wie faszinierend vielseitig Tischtennisbälle und -schläger sein können!). Es gibt viel zu beobachten, zu hören und auch zu schmunzeln.
So hält Daniel Jeroma als Priester eine seltsam witzige Trauerrede, der man stundenlang zuhören könnte, und auch die mitunter selbstironisch vorgetragene Musik setzt mit ihrer Feier des menschlichen Schöpfungsmythos‘ einen nicht immer ernst gemeinten Gegenentwurf zur hoffnungslosen Geschichte von Herrn Geiser.
Dieser rückt im zweiten Teil nach der Pause, der kürzer und szenischer als der erste gerät, ins Zentrum. Immer klarer wird die Erkenntnis, wie irrelevant der Mensch und seine Ordnungs- und Kontrollversuche für die Natur doch ist. „Was heißt Holozän? Die Natur braucht keine Namen“, realisiert er kurz vor Schluss.
Dass manche Mittel nur ein einziges Mal genutzt werden (wie Herr Geiser aus Hut, Bart und Regenschirm), könnte man als inkonsequent oder beliebig bezeichnen. Es passt aber auch zur Denkweise des Protagonisten, der immer wieder vergisst, nicht geradlinig denkt. Lawall und sein Team haben diverse Herangehensweisen und Formen ausprobiert, auch die Inszenierung ist ein Versuch. Herr Geisers Versuch, etwas festzuhalten, kann nur scheitern, der Inszenierungsversuch hingegen ist geglückt.
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Der Mensch erscheint im Holozän
Ein Konservierungsversuch nach Max Frisch und Joseph Haydn
Bühnenfassung nach der Erzählung von Max Frisch
Mit Musik aus Joseph Haydns „Die Schöpfung“, von Johann Sebastian Bach und Ludwig van Beethoven
Premiere: 27. Mai 2023
Dauer: 2 Std. 20 Min. (inkl. Pause)
Inszenierung: Pablo Lawall
Musikalische Leitung und Einstudierung: Mateo Peñaloza Cecconi
Bühne, Kostüm, Objekte: Lex Hymer (Selma Lindgren, Xandi Vogler)
Licht: Thomas Ratzinger
Ton: Fabian Halseband
Dramaturgie: Hanna Kneißler
Es spielen und singen:
Timothy Edlin, Tobias Glagau, Gloria Iberl-Thieme, Daniel Jeroma, Mateo Peñaloza Cecconi, Scarlett Pulwey, Merten Schroedter
Nächste Vorstellungen: 02.06.23 / 08.06.23 / 10.06.23 / 21.06.23