Deutsch-Sorbisches Volkstheater Bautzen: "Verfitzt und zugenäht"
Es waren die Sorben, die die zu feiernde Bautzener Puppentradition begründeten – also nicht die Kommunisten oder die Russen. Die beiden Letzteren zumindest nicht hauptsächlich. Denn zum 1. Januar 1961 holte ein Beschluss des sorbischen Dachverbands Domowina den bis dato frei durch die Lausitz tingelnden Puppenspieler Bert Ritscher ans Bautzener Volkstheater. Dessen Frau und zwei andere Spieler hatten das Sorbische als Muttersprache intus – die Sparte ward geboren und von Anfang an bilingual angelegt. Genauer: eigentlich drei- bis viersprachig, denn Ober- und Niedersorben, indigene Ureinwohner der Lausitz, die in ihrer ganzen Geschichte nur einen Krieg führten (und verloren) und dadurch geschickt überlebten, pflegen ihre Sprachkultur (für Fremde oft unbemerkt) so unterschiedlich wie Polen und Slowaken. Das Quadrat der Dialekte macht vor Ort eigentlich das Sächsische voll, aber auch das ist eher ungenau, denn in der oberen Oberlausitz spricht man eine ganz eigene Mundart, in Görlitz an der Neiße eher Niederschlesisch, während Hoyerswerda und Weißwasser schon wieder arg berlinern. Sächsisch dominiert vorwiegend die Westlausitz zwischen Bautzen, Kamenz und Radeberg.
Das Gebiet mit der höchsten Puppenspartendichte Europas, so Bautzens Intendant Lutz Hillmann, hat also nebenher noch traditionell die meisten Dialekte zu bieten, wobei Luther seinerzeit die höchstdeutsche Sprachklarheit seinerzeit zwischen Meißen und Torgau wahrnahm. Doch genug der Heimatkunde aus dem Gebiet der vielen genetischen Falten als Ursprung jeder Kultur – und zurück gen Sorben-Hauptstadt am letzten Junowochenende anno 2021, wo man erfährt, dass dort 1963 die Hochzeit vom Bautzener Theater und Sorbischen Volkstheater zum Deutsch-Sorbischen Volkstheater verfügt wurde. Das Puppentheater ward eine eigene Sparte und Ritscher – ein bekannter Wandermarionettenspieler in sechster Generation – blieb bis zum unerwarteten Tod 1970 Puppendirektor des neuen Stadttheaters. 62 Spieler plus neun feste Puppengestalter gehörten seither zum Ensemble, 15.500 Vorstellungen mit 2,25 Millionen Zuschauern hat man als bisherige Bilanz der ersten sechs Dekaden errechnet. Dies – samt zuvor genau 250 Premieren – wurde am vergangenen Wochenende in Bautzen lebendig wie gebührend gefeiert – nicht in der Heimstätte, dem schicken Burgtheater, wo als großes Freiluftspektakel auf dem Hof der Ortenburg derzeit zum 25. Theatersommer Sherlock Holmes nach den Bautzener Beatles-Bändern sucht (38 Vorstellungen mit in Summe 21.700 Zuschauern), sondern unten in der Stadt – im lauschigen Theatergarten neben dem Großen Haus.
Verfitzte wie gelungene Premiere
Aufgrund der Wetterprognose wurde die Uraufführung des Jubiläumswerkes zu 60 Jahren Puppentheater in Bautzen flugs in den großen Saal verlegt, was die Prägnanz in Sachen Licht- und Tonregie erhöhte. Bei „Verfitzt und zugenäht – das Stück zum Buch“ gibt es, beruhend auf Episoden und Archivmaterial, ein geschickt zusammengefügtes Nummernprogramm, dessen Grundidee so einfach wie faszinierend ist: Denn dank des Fototermins für das Buch entsteht im Puppenfundus arge Unruhe – denn nur eine Puppe aus jedem Jahrgang darf ins Buch.
Puppenspielerin Annekatrin Weber, in der Rolle der Kümmerin als mürrisch charakterisiert, haust während der langen Vorstellungspause allein im finsteren Burgkeller, wo Neuzugänge nur am Ende ihrer ruhmreichen Karriere einziehen. Ein Feierabendheim für Ex-Stars, die nun die Chance wittern, endlich auszubrechen. Dabei killen sie erst einmal die Übungsmarionette: Geköpft, verfitzt den Mund zugenäht. Zwei Polizisten, einer mit Schirmmütze als Tatort-, einer mit Pickelhaube als Polizeirufkommissar, übernehmen die Ermittlungen und lassen alle antreten – und erfahren die ganzen Eitelkeiten der Bautzener Puppenkisten: Marionette Karli aus „Der gestohlene Ball“ (1963) ist zu alt für sein kindliches Aussehen, Klappmaul Wilhelmine, eine sinnliche Blondine aus „Casanova kommt!“ (2008), hat keine Hände, der verliebte Wassermann Tonda, eine kopflose Kaukautzkypuppe, hat es plötzlich mit dem riesigen Kopp der Koruna-Puppe Eisenring aus Frischs „Herr Biedermann …“ (2014) zu tun – eine kuriose Verbindung zwischen Wassergeist und Brandstifter. Doch fast alle haben ein Alibi – die Ermittlungen gestalten sich allumfassend, aber schwierig.
Stephan Siegfried, Nachfolger von Therese Thomaschke, die von 2008 bis 2018 hier viele Akzente setzte, war schon einmal von 2011 bis 2014 am Haus. Jetzt stiftet er – 33 Jahre jung und mit überbordender Ideenvielfalt und bemerkenswerter Energie ausgestattet – als Chef der siebenköpfigen Brigade sowohl Grundidee als auch Text sowie Inszenierung und Bühne, nachdem er drei Wochen zuvor schon mit dem lustigen Solo „Godow & Somorrha“ die 250. Premiere lieferte. Dabei verlangt er seinem Quartett alles ab. Es variiert vor allem hinter den beiden sich zur kleinen Bühne mit vorgelagerten Tresen für Tischpuppen verjüngenden, mannshohen Wänden, die durch Stoffstreifen stets in Windeseile bespielbar sind, und gönnt dabei Weber die Hauptrolle. Sie darf sich sogar per Gullivers Hand – von der Sieben-Meter-Kranmarionette aus dem 19. Theatersommer 2014 geliehen – streicheln lassen.
Marie-Luise Müller, Eva Vinke und Andreas Larraß wirbeln derweil in Puppenspielmanier meist unerkannterweise herum und wechseln dabei in unterschiedlichste Formen und Rollen. Sieben Zwerge, drei Kater, der schwarze Schwanenseeschwan und auch die vulgäre Hexe kämpfen mit all den anderen heftig um neue Jobchancen im Rampenlicht – manche Puppen erregen schon beim Anblick Szenenapplaus des Premierenpublikums.
„Augen auf“ bei der Titelauswahl kommentierte Siegfried lachend das einzige Malheur der Inszenierung, vom Quartett unbemerkbar überspielt. Denn der Gewichtheber fiel als Marionette wirklich kurz vorm Auftritt runter und verfitzte sich so sehr, dass er sich nur den Schlussapplaus, bei dem dann alle beteiligten Puppen wie Ahnen von der Spielwand blickten und den kompletten Wahnsinn dieser Produktion widerspiegelten, stellen konnte. Siegfried gelang eine anrührende wie humorvolle Ode an die Profession und seine Brigade. Höhepunkt mit Gänsehauteffekt: das sorbisch-gesungene Duett von Larraß und Müller in den Kaukautzky-Puppen von 1998 aus „Der verliebte Wassermann“, in dem auch – wie oft an diesem Theater – en passant die Vertreibung der Sorben aus über einhundert Lausitzer Dörfern zugunsten der Braunkohleverstromung thematisiert wird.
Buchpremiere und versetztes Festival
Zum Abschluss nach dem langen wie herzlichen Premierenapplaus bat der aktuelle Puppendirektor die etlichen anwesenden Ehemaligen aufzustehen – und später in die Bühnenkulisse zu ihren Ex-Helden. So wurde nicht nur die Historie gewürdigt, sondern Theatergeschichte erneut leibhaftig lebendig – wobei auch der Verluste gedacht wurde. Auch im Buch zum Stück, mutig mit 5000er Auflage gedruckt, wird dies so prägnant beschrieben wie wunderbar bebildert – nicht nur Puppenhelden und Grußworte, sondern auch Gründer, Leiter und Spielstätten sind Thema. Vor allem wird der „guten Seele“ gedacht: Hildburg Zschiedrich, von 1973 bis 2006 als Dramaturgin auch akribische Archivarin. Sie besuchte bis zu ihrem Tod vor zwei Jahren jede Premiere und vermachte ihre exorbitante Büchersammlung dem Theater. Diese bekam im Puppenhaus einen eigenen Raum als „Hildburg-Ziedrich-Bibliothek“ – neben dem Puppenfundus die zweite Sprudelquelle, die weit über Bautzen und Sachsen hinausweist.
Noch zwei abschließende Bonmots aus Ostsachsen gen Tiefwesten: Die Theaterfusion von 1963 sei die einzige geglückte in Deutschland, die er kenne, sagt Lutz Hillmann – und meint nicht nur den Sparwert, sondern auch den Kunsterhalt, während das benachbarte Sorbische National-Ensemble, für Pflege von eigenständigem Tanz und Musiktheater zuständig, derzeit führungstechnisch wie künstlerisch zerlegt wird. Und die Russen – einst als Sowjetunion tonangebend im gesamten Ostblock – sind nicht unschuldig: die Tradition des Moskauer Puppentheaters unter Sergej Obraszow als eigenständige „hochkulturelle Theaterform“ ward exportiert und mit zahlreichen Gastspielen des Großmeisters, bei dem er – so die Überlieferung – mit bis zu 50 Mann und einem kompletten Eisenbahnwaggon Bühnentechnik anrückte, untermauert. Die Bautzener Sparte war damals die elftschnellste in der DDR-Gründungsabfolge, in Sachsen überlebten als eigenständige Sparten in Summe deren sechs – zu Zeiten von Ritschers Uropa, also um die vorletzte Jahrhundertwende gab es rund 150 Marionettenbühnen im damaligen Königreich.
Viel Neues im Osten
Vier Theater kommen nun im Gefolge dieser Doppelfete mit Uraufführung und Buchpremiere zum 8. Sächsischen Puppentheatertreffen gen Bautzen getrabt, die Kollegen vom Theater der Jungen Welt aus Leipzig waren sogar Gäste der Uraufführung und spielten tags darauf „Gordon und Tapir“. Es folgen nun im Wochenrhythmus (jeweils sonntags 16 Uhr): die Landesbühnen Radebeul mit „Wo wohnt der Wurm“ (11. Juli), danach kommt Chemnitz mit „Der Mondmann“ (18. Juli) und Zwickau mit „Was macht man mit einem Problem“ (25. Juli). Das nächstgelegene Dresdner Theater Junge Generation serviert eine 55-minütige Netzproduktion namens „Abflug Terminal Sofa“ über die eigene Präsenz, das aber in Summe zwei Mal während der locker über einen Monat gestreckten Festivalzeit (1. & 8. Juli).
Siegfrieds Sparte selbst spielt hingegen bis zum 8. August unverdrossen livehaftig weiter: acht Repertoirestücke, darunter alle drei Premieren der sommerlichen Neuzeit. Und Hillmann widersprach bei der Geburtstags- als Premierenfeier sogar Max Reinhardt, der 1928 Schauspieler als selig erklärte, weil sie sich ihre Kindheit heimlich in die Tasche gesteckt hätten, um bis ans Lebensende spielen zu können. Er habe dabei die Puppenspieler vergessen, die dies ja sogar rein haptisch tun. Und oft das allererste, vielleicht lebenslänglich prägende Theatererlebnis für die Kinder aller Welt liefern. Zuvor bekannte Siegfried euphorisch seine Liebe zum Ensemble und kündigte alle zwei bis drei Jahre eine neue Version dieser Art Persiflage an – allein das fluffige Buch aus dem Verlag Theater der Zeit, welches auf einhundert Seiten für sieben Euro je eine Puppe pro Jahrgang vorstellt, verheißt da Spannung. Ergo: Viel Neues im Osten.
„Verfitzt und zugenäht!“ (UA)
Das Stück zum Buch – Puppencomedy von Stephan Siegfried (ab 16 Jahre)
Regie & Bühne: Stephan Siegfried
Musik: Tasso Schille
Spiel: Annekatrin Weber, Andreas Larraß, Marie-Luise Müller & Eva Vinke
Nächste Vorstellungen: 2., 3., 10., 24., 30. & 31. Juli sowie 7. August (je 19.30 Uhr)
Fotos: Miroslaw Nowotny
"Verfitzt und zugenäht"