Die aktuelle Kritik

Theater Münster: "Internat"

Von Pia Soldan

Mit Russlands großangelegtem Angriff auf die Ukraine im Februar 2022 hat Serhij Zhadans 2018 auf deutsch erschienener Roman „Internat“ über den Krieg im Donbas neue Aufmerksamkeit erfahren. Moritz Sostmann hat den Text zusammen mit Remsi Al Khalisi für das Theater Münster adaptiert und inszeniert ihn mit beklemmender Atmosphäre und emotionaler Ambivalenz.

30. Januar 2024

Als die Krisen und Konflikte in der Stadt immer gefährlicher werden, versucht der junge Lehrer Pawlo Iwanowitsch, genannt Pascha, seinen 13-jährigen Neffen Sascha nach Hause zu holen. Allerdings befindet sich dieser in einem Internat am anderen Ende der Stadt, weshalb sowohl Paschas Weg dorthin als auch sein Rückweg gemeinsam mit dem Jungen große Gefahren bergen.

Warum der Soldat, der Pascha kontrolliert, durch eine Kugel sterben muss, bleibt im Dunkeln. Tatsächlich geht es in dieser Inszenierung nicht um politische Zusammenhänge oder eine philosophische Auseinandersetzung mit dem „Warum“ des Krieges. Vielmehr liegt der Fokus auf den Figuren und ihrer Orientierungslosigkeit in der Welt. So diffus die Gründe für den Tod des Mannes erscheinen, so konkret spritzt sein Blut auf eine Zeichnung, die Sascha auf dem Fußboden hockend anfertigt. Und so ungläubig wirken die Bewegungen von Nina Petrownas Fingern, die das Rot auf dem Papier verstreichen. Ohne Nina (Franziska Rattay) kann Sascha nicht zeichnen. Er ist abhängig von seiner Betreuerin im Internat, inhaltlich wie formal, weil er als Puppe auf seine Spielerin angewiesen ist. Nina ist es nämlich, die die kleine Hand über das Papier führt, was über eine Kamera auf die Leinwand an der Bühnenrückwand projiziert wird, wie auch das spritzende Blut des Soldaten als Teil von Paschas Erinnerungen (Bühne & Kostüme: Klemens Kühn). In Sostmanns Inszenierung verschwimmen die Zeitebenen; was Pascha (Artur Spannagel) auf seinem Weg erlebt, mischt sich mit seiner Wahrnehmung des bisherigen Kriegsgeschehens.

"Internat": Johannes Benecke, Frank-Peter Dettmann © Sandra Then

Auch das entscheidende Gespräch mit seinem Vater platziert sich irgendwo in Paschas ungeordneten Erinnerungen. Der alte Puppenmann überzeugt Pascha von den Gefahren, die Sascha im Internat drohen. In Rattays und Johannes Beneckes Händen wird diese Vaterfigur zu einem Menschen, wie er glaubhafter nicht vor den Nachrichten sitzen könnte. Er zeigt Pascha seine Pflicht auf, seinen Neffen aus dem Internat zu retten, sonst werde er selbst gehen, wie er in seiner schlafanzügigen Possierlichkeit auf seinem winzigen Sessel versichert.

Pascha bleibt nichts anderes übrig, als sich auf den Weg zu machen, zunächst zum Bahnhof. Von dort aus geht es in der Gruppe weiter, die als Schatten auf der Leinwand durch die Stadt zieht. Die überzeichnet verstellten Stimmen der Gruppenmitglieder wirken dabei auf eine Weise albern, wie sie nur dem Versuch geschuldet sein kann, all dem Grauen für das Theaterpublikum die Schärfe zu nehmen. Ob Pascha und Sascha die Rückkehr nach Hause gelingt, bleibt jedoch offen, endet ihre Reise für das Publikum doch im Taxi.

Warum auf dem Rückweg die Sascha-Puppe gegen ihr menschliches Double (Ansgar Sauren) gewechselt wird, begründet das Stück nicht explizit. Es lässt jedoch beim Zuschauen die Sehnsucht nach der lebensechten Puppe wachsen, von Rattay, Benecke und Sauren auf eine Weise bewegt, die zwischen Coolness, Aggression und kindlicher Verletzlichkeit einen wahrhaften Heranwachsenden erkennen lässt. Ebenso meisterlich gebaut (Puppen: Hagen Tilp) und gespielt erscheint auch der Taxifahrer. Jeder Bewegung dieser fein gezeichneten Puppe mit ihren harten Zügen ist durch Rattays und Frank-Peter Dettmanns Spiel der schlechte Zustand des Straßenbelags anzumerken. Selbst kleinste Bewegungen zur Bedienung der Gaspedale und des Schaltknüppels berücksichtigen die Spielenden so, dass die Puppe zu einer ganz und gar menschlichen Figur wird.

"Internat": Ensemble © Sandra Then

So virtuos gespielt wirkt selbst der Kriegsjournalist überzeugend. Immer wieder begegnet Pascha ihm auf seinem Weg und sieht sich mit einer Instanz von außerhalb des Krieges konfrontiert. Der Journalist selbst äußert, dass er die Nachrichten nicht lese, sondern schreibe, und der Krieg wird für ihn Mittel zum Zweck. Dabei scheint seine Rolle jedoch eher der immer wiederkehrenden merkwürdig komödiantischen Attitüde zu dienen. Dieser stehen vor allem Nina, Pascha und Sascha gegenüber, die mit Verzweiflung, Aggression und Lethargie auf das Kriegsgeschehen reagieren.

„Wie die Ratten, die das Sinken des Schiffes verpasst haben“, so formuliert Pascha in einer ersten wirklich verzweifelten Regung, bewegen sich Neffe und Onkel durch Schusswechsel und zerstörte Infrastruktur, treffen auf Vera (Nadine Quittner), die Pascha fragt: „Wieso meinst du denn, dass das alles vorbeigeht?“ Und es sind diese kurzen Momente, die tief gehen in diesem großen Chaos, das sich auf der Bühne in herumfliegendem Kunstschnee, einer zerstörten Tür, herumrollenden Äpfeln und durcheinanderliegenden Stühlen manifestiert. All das ist in seiner Form überzeugend, um den grausamen Inhalt auch nur ansatzweise begreiflich zu machen – und nur im Chaos funktioniert dieses Stück. Der Einsatz der Puppen ermöglicht aber auch immer wieder Humor und macht es emotional erträglicher.

Nach ausgedehntem Applaus, Standing Ovations und anerkennenden Rufen nähern sich einzelne Zuschauende dem Durcheinander auf der Raumbühne, blicken den Puppen vorsichtig ins Gesicht. Selbst so allein herumliegend wirkt jede einzelne von ihnen, als könnte sie jeden Moment aufstehen und sich erneut den Bedrohungen des Krieges aussetzen.


Theater Münster: „Internat

von Serhij Zhadan, aus dem Ukrainischen von Juri Durkot und Sabine Stöhr

Fassung für das Theater Münster von Remsi Al Khalisi und Moritz Sostmann nach dem gleichnamigen Roman

Regie: Moritz Sostmann | Bühne & Kostüme: Klemens Kühn | Puppenbau: Hagen Tilp | Dramaturgie: Victoria Weich | Mit: Artur Spannagel, Ansgar Sauren, Franziska Rattay, Johannes Benecke, Frank-Peter Dettmann, Nadine Quittner

Premiere: 26. Januar 2024
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten

Hier geht’s zum Stück und weiteren Spielterminen auf der Website des Theaters Münster.

 

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