Die aktuelle Kritik

Schaubude Berlin: "Solaris"

von Tom Mustroph

Ursprünglich als Zuschauer gekommene Menschen gehen auf interplanetare Erkenntnismission.

 

Gametheater als Schule praktischer Bastelweisheit

Die Szenographie erinnert Liebhaber an die "Raumpatrouille Orion". Gut, das berühmte Bügeleisen auf der Kommandokonsole fehlt. Aber die klare weiße Halbkuppel, die die Kommandoeinheit dieses in die Berliner Schaubude gebauten Raumschiffs darstellte, hatte doch viel von der eleganten Retroästhetik der frühen Antwort der ARD auf die US-Serie "Star Trek" (Fernsehstart von "Orion" nur neun Tage nach der ersten "Star Trek"-Folge!): Monitore frisch aus dem Computermuseum, ein Drucker mit Endlospapierrolle - es fehlte eigentlich nur noch ein Lochkartenleser, um sich in der Science Fiction-Retro-Welt ganz heimisch zu fühlen.

Der ästhetische Rückgriff macht Sinn. Stanislaw Lems Roman "Solaris" kam in der gleichen Dekade heraus, in der in München an der Raumpatrouille gewerkelt wurde. Träume vom grenzenlosen Weltall, von multikulturellen Crews und von der Suche nach Zivilisationen bestimmten den Zeitgeist. Diese Zivilisationen sollten damals nicht beherrscht werden, ihnen sollte auch nicht die Entwicklung zum sogenannten demokratischen Nation Building übergeholfen werden. Ja es ging noch nicht einmal darum, diese Territorien als Absatzgebiet für die eigenen Modedrinks oder Kommunikationsgadgets zu erschließen. Das galt für den Polen Lem wie die bundesdeutschen "Orion"-Macher und auch für "Star Trek"-Vater Gene Roddenberry. Eine schöne frühe Science-Fiction-Unschuld.

In dieses Setting wurden von der komplexbrigade nun ein Dutzend "Solaris"-Ticket-Erwerber an der Schaubude Berlin gebracht. Ausgestattet mit einer Astronautenuniform - auch hier standen "Star Trek" und "Orion" ästhetisch Pate - nahmen sie Positionen auf der Brücke ein. Rollen als Kapitän und Kommunikationsoffizier, als Wissenschaftler und als Strategieoffizier wurden verteilt. Wer zum Zuschauen gekommen war, durfte, ja musste plötzlich mitspielen. "Wir wollten mal etwas anderes im Theater haben als immer diese Frontalsituation. Und wann kann man das ausprobieren, wenn nicht beim Studium", meinte munter Caspar Bankert, zu dessen Diplomarbeit an der Schauspielschule "Ernst Busch" sich das Projekt auswuchs.

Deshalb wurden die Rollen vertauscht. Die Zuschauer agierten nun. Sie versuchten Klarheit in eine gescheiterte Mission auf dem Planeten Solaris zu bringen, zu entscheiden, wer gerettet werden sollte, und was man mit extraterrestrischen Intelligenzen und mit Menschen simulierenden Avataren mit Selbstlernfunktion anstellen sollte. Bankert hingegen und dessen Diplomarbeitskollege Hannes Kapsch sowie der Rest der Produktioncrew horchten jenseits der weißen Zeltplane, was innen so vorging. Gut, sie horchten nicht nur, sondern gaben in verschiedenen Rollen neue Informationen in das Raumschiff und steuerten so die narrative Struktur. Was genau die per Zufall zusammengebrachte Truppe im Inneren damit anfing, konnten die Macher von außen allerdings kaum beeinflussen.

Verblüffend war zu beobachten, wie die einzelnen, egal ob Kritiker, Puppenspielkollegen oder ganz normale, also weder beruflich noch freundschaftlich verbundene Premierengäste, ihre Rollen annahmen. Der Kapitän strahlte Autorität aus, die Wissenschaftler Kompetenz, die Funker wirkten sehr ernsthaft. Und unter denen, die eher lockere Funktionsbeschreibungen erhalten hatten, fanden sich auch ganz schnell Mitspieler, die aus eigenem Antrieb die Spieldynamik am Laufen hielten und sich sichtbar verantwortlich fühlten, dass alles klappte.

Friedrich Schiller hätte sich sicher darüber gefreut, wie eifrig in Logbüchern geblättert wurde, wie versucht wurde, Kommunikationsmittel zu reparieren und über Funktionsweise, Einsatzmöglichkeiten und Einsatznotwendigkeiten von Waffensystemen debattiert wurde. In seinem viel zitierten, aber wesentlich seltener gelesenen Aufsatz mit der Frage: "Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken?" ging Schiller nämlich nicht nur auf den Zeigefinger-Aspekt der "moralischen Anstalt" ein, sondern skizzierte sein Idealtheater eben auch als eine "Schule praktischer Weisheit". Diesem vor mehr als 200 Jahren schon formulierten MacGyver-Ansatz ging nun auch die "Solaris"-Crew nach. Es wurde gehirnt und gebastelt. Auf Post-Lem-Technologien wie Google wurde verzichtet; als braver Theaterbesucher hatte man sein Smartphone ja ausgestellt. Als Glücksfall erwies sich die Polnisch-Kompetenz einer Mitstreiterin - Lems Roman lag in der Originalsprache aus. Ein Hauch von Erinnerung an die multinationalen Crews der frühen Science Fiction wehte in die weiße Kuppel.

Und nach der Vorstellung geschah etwas, was für konventionelles Theater eher unüblich ist: Man blieb beieinander, redete, fachsimpelte. Und wer dann ging, verabschiedete sich per Handschlag, selbst bei denen, die er oder sie an diesem Abend zum allerersten Mal im Leben gesehen hatte. Soziales Lernen im Game-Theater - ein ziemlich verblüffender Aspekt.

Gut, technisch gäbe es manches zu kritisieren an diesem Projekt: Das Design der Rätselaufgaben, die Hinweise zum Gebrauchen der diversen Tools - das alles hat man schon raffinierter gesehen, bei machina eX zum Beispiel. Die Übermittlungskanäle - Audio und Text auf dem Bildschirm - waren auch etwas karg konfiguriert. Etwas mehr handgreifliche Objekte wären ebenfalls von Vorteil gewesen. Die Zeit fürs intellektuelle Durchdringen der Thematik - immerhin ging es um das Einschätzen der Absichten extraterristrischer Intelligenzen und Menschen simulierender Avatare - war angesichts des fieberhaften Suchens nach Lösungen andererseits viel zu kurz bemessen. Die "moralische Anstalt" war aus Zeitmangel also eher geschlossen, selbst wenn der zyklisch eintretende "Energiesparmodus" der Station für etwas Besinnung sorgte. Das ist ein Feature, das auch routiniertere Gametheater-Designer integrieren könnten. Insgesamt bezauberte bei "Solaris" aber die soziale Dynamik, die Schnelligkeit, in der sich zarte Kollaborationsansätze ergaben. Und auch die tatsache, dass es nicht um ein Gewinnen ging. Was erreicht wurde, wurde dann in einer versöhnlichen Abschlusszene - je nach Dynamik sind unterschiedliche Enden vorbereitet - verarbeitet.

Für die Schaubude, die sich die Eroberung neuer technologischer Territorien für das Objekttheater zum Ziel gesetzt hat, stellt die Produktion einen Schritt in die gewünschte Richtung dar. Und praktischerweise passt das gesamte Bühnebild - Halbkugelzelt inklusive Ventilator, Stellwänden und Monitoren - in einen einzigen Transporter. "Solaris" kann also terrestrisch reisen. Viel Glück.

 

Premiere: 15. September 2016

Konzept: Caspar Bankert, Sonja Friedl, Julie Junge, Hannes Kapsch
Spiel: Caspar Bankert, Hannes Kapsch, Johanna Kolberg
Ton, Musik: Moritz Schwerin
Szenografie: Julie Junge
Dauer: ca. 90 Minuten

Foto: komplexbrigade

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