Theater Chemnitz und SCHAUBUDE Berlin: "Fliegende Hunde"
Fotos: Dieter Wuschanski
Aufwind und Fall
Ob man fällt oder fliegt, bestimmt erst die Art, wie man aufkommt – harter Aufprall oder weiche Landung. Friert man hingegen die Bewegung in der Luft ein, scheint alles starr zu schweben, unentschieden zwischen Flug und Fall. In dieser zwiespältigen Spannung entfaltet sich die Geschichte, die die mehrfach ausgezeichnete, südkoreanische Autorin Oh Jung-Hee in ihrem Roman „Vögel“ aus dem Jahr 1995 erzählt. Dem ehemaligen Hausregisseur des Puppentheaters Magdeburg Nis Søgaard, der Bühnenbildnerin Jana Barthel und der Spielerin Kotti Yun ist es zu verdanken, dass dieser Roman unter dem Titel „Fliegende Hunde“ nun seine verspätete, äußerst gelungene Bühnenadaption in der Schaubude Berlin und im Theater Chemnitz, unter der neuen Leitung von Gundula Hoffmann, erfährt.
Erzählt wird von dem Mädchen Uumi und ihrem kleinen Bruders Unil, die voller Hoffnung mit ihrem Vater in eine großstädtische Hinterhofwohnung ziehen und nach kurzer Zeit in eine sozial ungesicherte Welt aus Elend und Einsamkeit abstürzen. Auf der einen Seite prägen dabei Situationen von Gefangensein, Verlassenwerden, Zerstörung und Verfall die Schilderungen der jungen Heldin, auf der anderen Seite Träume vom Fliegen, von Aufbruch, Geistern, Mythen und schwebenden Sternen. Die eigenartige Poesie Oh Jung-Hees liegt darin, in diesem Schwebezustand zwischen Realität und Fiktion zu verharren und offenzulassen, ob wir uns in einem Sturz oder einem Flug befinden. Phantasie als Aufwind oder bloße Zerstreuung vor dem schmerzvollen Aufprall?
Diesen Tonfall der Vorlage zu treffen, ja fast zu übertreffen, ist die große Leistung der Theateradaption, die neben der kraftvollen Sprache eigenständige Bilder entstehen lässt. Die Bühne, eine kalte Landschaft irgendwo zwischen Schulsporthalle, Plattenbausiedlung und Apple Store entpuppt sich im Laufe des Abends als zunehmend skurrile, chaotische Wunderkammer. Figuren tauchen auf, schweben dahin oder verschwinden im virtuosen Wechsel von Licht und Dunkelheit, hinter Klappen und Deckeln, als zeichenhafte Kreidestriche oder Wasserzeichnungen, die langsam zerfließen und vertrocknen. Die Figuren – ob Puppe (Barbara Weinhold), Objekt oder Mensch – scheinen dabei jeweils unterschiedlichen Welten anzugehören: so stehen etwa die steifen Gesichter der Erwachsenen den noch unfertigen oder „ausgelöschten“ Gesichtern der Kinder gegenüber. Und wenn der Vater und die Stiefmutter als Gummistiefel und glitzernde Absatzschuhe miteinander tanzen, weiß man schon zu Beginn, dass dieses Paar nicht zueinander finden, geschweige denn in seiner zwangsläufigen Bodenständigkeit davonfliegen kann.
Im Schwebezustand festgehaltene, fast zeit- und raumlose Gesten wie diese sind es, die den Charakter des Abends ausmachen. Sie halten den Zuschauer auf Distanz und machen ihn zum Beobachter, zum detektivischen Entdecker der verschränkten Innen- und Außenwelten der Figuren. Es bleibt jedem Zuschauer überlassen, dabei zwischen Flug und Fall, Phantasie oder Pflicht zu entscheiden. Eine anspruchsvolle, kluge Inszenierung, die herausfordert und der man ein großes Publikum wünscht.
Theater Chemnitz/Figurentheater und SCHAUBUDE Berlin, Fliegende Hunde
Objekt- und Figurentheater nach dem Roman "Vögel" von Jung-Hee Oh (ab 15 Jahren)
Idee/Konzept: Søgaard/Barthel/Yun
Regie: Nis Søgaard
Bühne/Kostüm: Jana Barthel
Puppenbau: Barbara Weinhold
Dramaturgie: René Schmidt
Spiel: Kotti Yun
Musik: Yvon Philipp
Eine Koproduktion mit SCHAUBUDE Berlin und Theater Chemnnitz
Premiere Berlin: 17. Oktober 2014
Premiere Chemnitz: 1. November 2014
In Zusammenarbeit mit double - Magazin für Figuren-, Puppen- und Objekttheater