Theater Junge Generation Dresden: „Die dampfenden Hälse der Pferde im Turm von Babel“
Noch gewagter, aber ebenso gelungen: Alle drei Puppenspieler agieren auf einer großen freistehenden Bühne, einer typischen DDR-Neubauwohnung (WBS 70 mit stilisierter Durchreiche von Stube zur Küche zum dynamischen Durchschwingen) im unteren Geschoss. In phantasievollen Kosmonautenanzügen spielen sie im Prinzip die drei gleichberechtigen Kinder im dynamischen Selbstbeschäftigungsmodus. Jenseits von ein paar Kuscheltieren – wie einem lustigen Löwe und einem rosaroten Hase, der während der Behandlung in der Wäscheschleuder als Zeitschleuse arg schrumpft – ohne Puppen. Aber dafür mit allem, was sich in den Wohnungsschränken eines gemeinen Hausstandes anno 1978 befindet.
Haushaltobjekttheater mit Trödelfeeling
Ein Schwerpunkt bei dieser Art Haushaltobjekttheater, meist mit unverwüstlichen Küchengeräten performt, liegt dabei in der punktgenauen Beherrschung herrlicher alter Aka-Elektrik-Geräte – so phantasievoll wie zweckentfremdet eingesetzt, dass man es durchaus als eine Sinfonie oder Choreografie bezeichnen könnte. Dies wird eingebettet in einem wunderbaren Rahmen: Anfangs wird mit analogen theatralen Mitteln der Start von Siggi Jähn und Waleri Bykowsky am 26. August 1978 per Sojus 31 zelebriert – die dann in fast acht Tagen 125 mal die Erde umkreiste und seither Heldenstatus genießt. Am Ende wird das berühmte Blaue Buch ebenso gänsehäutig zurückgegeben und wieder ins Universum verschifft.
Nun heißt das Werk allerdings komplett „Die dampfenden Hälse der Pferde im Turm von Babel“ nach Franz Fühmann – und diesem zu genügen, ist eigentlich ein Unding. So erklärt sich der doppelte Kunstgriff von Julia Brettschneider, Ernst-Busch-Absolventin, mit ihrem Zirkusmaria seit 2009 eigenverantwortlich unterwegs und damit im mählich erwachenden sächsischen Puppensommer nahezu omnipräsent, der zusammen mit Dramaturgin Ulrike Carl auf kluger Reduktion beruht: Denn Fühmann scheut weder Figurenvielfalt noch große Vergleiche – so wie jenen mit dem blauen Buch Wittgensteins. In seinem Geistreich herrschen zudem Arthur Schopenhauer und Christian Morgenstern, die hier ebenso fehlen wie die beiden Kinder Monica und Caroline. Aus Emmanuel wird Manu, Gabi und Jens bleiben – die drei Kids sind nicht, wie in der Buchvorlage, mit den Eltern im Urlaub auf dem Spielplatz der Sprache, sondern allein im Block, wobei es in diesem Hochhaus nicht spukt. Der ferne arbeitsame Vater weist die Selbstversorger per Telefon an, dass die Flimmerkiste ausbleibt.
Sprachspiele höchster (Eigen-)Art
Dafür liegt allen der vokalharmonisierende Sprachgeist Küslübürtün, jener „große und erhabene Geist des Wohlgefallen erregenden Sprachklangs“, der die Kinder bei Fühmann begleitet, auf der Zunge: Anagramme, Palindrome, Phonetik und Onamastik übernehmen die Regie. Ulrike Schuster, Patrick Borck und Uwe Steinbach spielen das mit schauspielerischer Leidenschaft und meistern Wort- und Satzkaskaden, wo der Schneesee noch ein leichtes ist, aber dank Schneeseekleereh eskaliert, denn die Schneeseekleerehfee bekommt rasch Schneeseekleerehfeezehweh …
Am Ende: Große Begeisterung in der nahezu ausverkauften Studiobühne, wobei in Zeiten hygienischer Kunst höchstens ein Drittel der Stühle besetzt sind. Es ist keine sonderlich gewagte These, dass diese dampfenden Pferdehälse im Babelturm dieses Seuchenjahr weit überleben werden.
Nur die Altersempfehlung (Menschen ab acht Jahren) scheint gewagt, denn das Buch richtet sich an Kinder ab elf Jahren. Und diverse Risiken wie Nebenwirkungen sind einzuplanen: Denn einerseits werden auch Erwachsene in das wirklich unendliche wie faszinierende Universum von Fühmanns Werken gesogen – und die Lieben unter den Kleinen werden nicht nur die Geräte adäquat (oder anders) ausprobieren, sondern auch langwierig (im Sinne des Autors und der ihn würdigenden TJG-Brigade) quasi-dadaistischen Wortspielereien hemmungslos verfallen. Das Buch gibt es übrigens in einer edel gestalteten Neuauflage im Hinstorff-Verlag, der bis dato gültiger Nekrolog von Christa Wolf erschien zwölf Wochen nach dem Ableben Ende September 1984 in der Frankfurter Rundschau.
Netzinfos: www.franz-fuehmann.de
„Die dampfenden Hälse der Pferde im Turm von Babel“
(nach Franz Fühmann, in einer Fassung von Julia Brettschneider)
Regie: Julia Brettschneider
Ausstattung: Ulrike Kunze
Musik: Christian Stoltz
Dramaturgie: Ulrike Carl
Spiel: Ulrike Schuster, Patrick Borck, Uwe Steinbach
Netzinfos: www.tjg-dresden.de/puppentheater/die-dampfenden-haelse-der-pferde-im-turm-von-babel.html
Premiere: 19. Juni 2020
Nächste Vorstellungen: 5., 11. & 12. Juli 2020 (je 15.30 Uhr)
Altersempfehlung: ab acht Jahren
Fotos: Marco Prill