Die aktuelle Kritik

F. Wiesel, Theater Heidelberg: „Die gleißende Welt“

Von Elisabeth Maier

Die junge Kaiserin besiegt den Stein: In "Die gleißende Welt" erwecken F. Wiesel Fantasiegestalten und Träume der englischen Schriftstellerin Margaret Cavendish an der Schnittstelle von Figurentheater und digitaler Technik zum Leben.

Eine junge Frau reist in die Zukunft. Mit großen Augen steht sie vor dem Kaiser. Was sie findet, ist kein Mensch aus Fleisch und Blut. Als steinerne Maske thront der Herrscher auf einem Podest. Die überlebensgroße Figur erinnert an ein Denkmal. Kalt und tief spricht der Spieler Henning Richter die Worte, mit denen er der Frau einen Antrag macht. Sie willigt ein. Doch statt einer liebevollen Umarmung greift eine steinerne Hand nach ihr, die die junge Kaiserin in ihr goldenes Gefängnis leitet. Wunderschön spielt Marie Dziomber diese ungewöhnliche Liebesszene. Doch sie wirkt verstört. Mit starken Bildern hat das Kollektiv F. Wiesel das Werk „Die gleißende Welt“ der Adligen und Gelehrten Margaret Cavendish aus dem 17. Jahrhundert im Zwinger des Theaters Heidelberg in Szene gesetzt.   

Im Jahr 1666 wütete in Europa die Pest. Im Krieg wurden die Bewohner ganzer Dörfer ausgelöscht. In dieser frostigen Zeit erschuf sich die Adlige Margaret Cavendish eine neue Zukunft. Doch diese Welt existierte nur in ihren Gedanken. Mit dieser abenteuerlichen Zeitreise dachte sie das Konzept der Science-Fiction-Romane voraus. Die Faszination dieser frühen Fantasy-Literatur bringen Hanke Wilsmann und Jost von Harleßem auf die Bühne. Die Regisseur*innen erkunden mit wechselnden Kollaborateur:innen im Kollektiv F. Wiesel Schnittstellen zwischen Figuren- und Puppenspiel, Technik und Performance. Nach der Dystopie „Restworld“, die im Oktober 2021 Premiere feierte, ist die Spurensuche im Werk der englischen Gelehrten Cavendish ihre zweite Arbeit am Theater Heidelberg.

"Die gleißende Welt" (c) Susanne Reichardt

Mit vielen biografischen Details überladen F. Wiesel den Text. Als Frau hatte es die junge Adlige schwer, sich in der Männerwelt zu behaupten. Das Kollektiv zeigt die Flucht in die Fantasie als ihren Weg, sich ein Matriarchat zu erschaffen. Mit warmer Stimme legt Anne Rieckhof in der Rolle der Philosophin und Schriftstellerin die Beweggründe der frühen Feministin offen. Ihr Mann William Cavendish, der ein bekannter Dichter war, durfte seinen Traum vom Künstlerdasein leben. Seine Frau Margaret kämpfte zeitlebens um Anerkennung. Immerhin schaffte sie es, ihre Werke unter eigenem Namen zu veröffentlichen. Rieckhof gelingt ein starkes Porträt dieser ungewöhnlichen Frau. Vor einem Tisch von Zeichnungen steht die Gelehrte. Sie denkt über die Welt nach, träumt sich in eine bessere Zukunft hinein. Rieckhof erzählt von starken Frauen, die das Abenteuer suchen. Trotz ihrer Überzeugungskraft geraten diese Passagen zu textlastig. Gedämpft klingt im Hintergrund das Spinett, mit dem Jacob Bussmann Bögen in die Vergangenheit spannt.

Fahrt nimmt der Theaterabend auf, wenn die Reise ins Abenteuer beginnt. F. Wiesel greifen in den gleichnishaften Szenen die Kämpfe der jungen Kaiserin auf. Großartig gelingt dann auch der Brückenschlag in die Gegenwart. Gelenkige Würmer schlängeln sich durch den Raum. Vorlaute Vögel als Handpuppen bringen die junge Frau auf ihrer Reise aus dem Takt. Doch sie allein hat das Sagen. Die Maske des Kaisers, der ihr die Macht gab, haben die Spieler:innen in die Ecke gestellt. Längst hat die junge Kaiserin über den Stein gesiegt. In ihrer Welt zählt nur noch die weibliche Perspektive.

"Die gleißende Welt" (c) Susanne Reichardt

Gewitzt sind Marie Dziombers Dialoge mit dem Fuchs. Die Puppe führen Hendrik Richter, Sarah Wissner und Helga Lázár gemeinsam. Die kluge Tiergestalt weckt das politische Gespür der jungen Frau, der in der englischen Gesellschaft des 17. Jahrhunderts die Teilhabe verwehrt wurde. Im Traum füllt sie nicht nur die Rolle der Kaiserin aus. Sie beherrscht die ganze Welt. In einer faszinierenden Installation erheben F. Wiesel die Protagonistin über die Lebensgröße hinaus. Lichtschraffuren werden auf ihren Rock projiziert. Die Kostüme von Naomi Kean zitieren Mode der Renaissance.

Der Spagat zwischen märchenhaften Bildern und einer politischen Botschaft gelingt F. Wiesel in der komplexen Regiearbeit. Das Interesse am vergessenen Werk Margaret Cavendishs, deren Text „Die gleißende Welt“ 2001 von Virginia Richter übersetzt und neu aufgelegt wurde, ist nur eine Triebfeder. Der Traum von einer weiblichen Kaiserin, den Frauen im 17. Jahrhundert vergebens träumten, ist für das Kollektiv hoch aktuell. F. Wiesel erzählen auch von der Suche junger Frauen im 21. Jahrhundert nach ihrer Identität. Sich in der Männerwelt zu behaupten, das bleibt herausfordernd. In dieser grenzenlosen Welt, die sich Frauen zunächst in ihrer Fantasie erschaffen, gewinnt eine neue, gerechtere Wirklichkeit die Oberhand.

"Die gleißende Welt"

Stückentwicklung von F. Wiesel nach dem Roman von Margaret Cavendish

Regie und Bühne: F. Wiesel (Hanke Wilsmann, Jost von Harleßem)

Kostüme: Naomi Kean

Mitarbeit Text: Rebecca Faber

Musik: Jacob Bussmann

Dramaturgie: Lene Grösch

Theaterpädagogik: Mareike Schneider

Die junge Frau, Kaiserin: Marie Dziomber

Margaret Cavendish: Anne Rieckhof

Kaiser, Bärenmensch, Vogel, Fuchsmensch: Hendrik Richter

Bärenmenschen, Vögel, Wurmmenschen: Sarah Wissner & Helga Lázár

Vogelmensch: Jacob Bussmann

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