Young Writers

Der Glöckner von Montevideo

Lucas Franken, Student der Theaterwissenschaft und Romanistik an der Ruhr-Universität Bochum, war für zweieinhalb Monate in Montevideo und hatte die Möglichkeit, vor Ort über uruguaisches Puppentheater zu forschen. Mit seinem Text ermöglicht er erste Einblicke in ein kaum bekanntes Terrain der internationalen Figurentheatergeschichte.

 

Franken absolvierte während seines Aufenthalts ein Praktikum bei der Theatergruppe "La Rueda Teatro" und dem uruguayischen Kinder- und Jugendtheaterzentrum CUTDIJ (Centro Uruguayo del Teatro y de la Danza para la Infancia y la Juventud). Das CUTDIJ ist eine Forschungs- und Weiterbildungseinrichtung, an der er Gustavo "Tato" Martínez kennenlernen durfte. Martínez leitet das uruguayische Figurentheatermuseum in Maldonado und hat sich intensiv mit der Geschichte der uruguayischen Handpuppe sowie mit der Figur des Glöckners Ambrosio Camarinhas, der angeblich erste Puppenspieler von Monetvideo, auseinandergesetzt.

 

Der Glöckner von Montevideo Notizen zur ersten uruguayischen Handpuppe

Der bucklige Glöckner Quasimodo aus Victor Hugos Roman „Der Glöckner von Notre-Dame“ ist heutzutage wohl jedem ein Begriff. Hätte der französische Schriftsteller seinen Text nicht schon 1831, sondern etwa zehn Jahre später veröffentlicht, könnte man die Vermutung aufstellen, dass er sich bei den Recherchen für seine Figur von Ambrosio Camarinhas inspirieren ließ. Denn in San Felipe y Santiago de Montevideo, der Hauptstadt der noch jungen Republik Uruguay, lebte ab den vierziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts der Glöckner Ambrosio Camarinhas, der schnell in der ganzen Stadt bekannt werden sollte. Unter seinem populären Spitznamen „Misericordia Campana“ (Die Glocke Barmherzigkeit) prägte er das öffentliche Treiben auf dem Kirchplatz „Plaza mayor“ (heute: „Plaza de la Constitución“) über vierzig Jahre lang bis zu seinem Tod 1883. Gleichzeitig ist er, fast beiläufig und ohne sich dessen selbst bewusst gewesen zu sein, als Erfinder der ersten uruguayischen Handpuppe bekannt geworden. Ursprünglich stammte Ambrosio Camarinhas aus dem brasilianischen Bundesstaat Pernambuco, wo er das Handwerk des Glöckners in einem Franziskanerkloster erlernte. Mit zweiundzwanzig Jahren floh er als Sklave in einem Boot nach Uruguay, wo er dann in die Gemeinde der „Matriz-Kirche“ Catedral Metropolitana de Montevideo aufgenommen wurde. Rein physiognomisch hätte man ihn, mit Ausnahme seiner dunklen Hautfarbe, glatt für die oben angesprochene Romanfigur halten können: als „krummbeinig“ und „bucklig“ bezeichnet ihn etwa im Jahr 1882 der Journalist und spätere erste Oberbürgermeister der Stadt Daniel Muñoz. Von einfachem Wesen soll er gewesen sein und sich demütig durchs Leben bewegt haben; darüber hinaus sagt man ihm eine grünliche Haarfarbe nach, die er selbst auf übermäßigen Genuss von Mate-Tee zurückzuführen wusste. Von allen Personen, die je die öffentliche Bühne der Stadtgesellschaft betreten hätten, sei Camarinhas die auffälligste und am meisten Aufsehen erregende gewesen – verständlich ist das, habe er doch die buchstäblich „höchste Position“ [1] innegehabt, die es allen Stadtbewohnern erlaubte, jede Handlung seiner täglichen öffentlichen Auftritte genau zu verfolgen. Doch auch, wenn er gerade nicht seiner Tätigkeit als Glöckner nachging, war Camarinhas ein begnadeter Performer: Muñoz berichtet von wilden Tänzen, die der Glöckner auf dem Kirchplatz gab, um sich ein Almosen zu verdienen, die Hände in der Luft und mit dem Mund die Glockenschläge imitierend, während er laut rief: „San José, cabeza me duele!“ (Heiliger Josef, mein Kopf tut mir weh!).[2] Nachts hingegen widmete er sich unter freiem Himmel auf der Plaza Mayor dem Handpuppenspiel. Die Hauptfigur seines Puppenspiels nannte sich „Misericordia Campana“ und teilte sich mit seinem Schöpfer nicht nur den Spitznamen, sondern auch Aussehen und Berufung: wie der „echte“ Misericordia stellte die Figur, die vermutlich aus Stofffetzen und Holz bestand (leider sind keine Abbildungen überliefert), einen dunkelhäutigen Glöckner dar. Auf der Puppenbühne war zu sehen, wie er heldenhaft Jungfrauen und Witwen beschützte und dies – im Gegensatz zu Pulcinella, Kasperl oder Punch: unbewaffnet. Die Figur setzte sich einzig und allein mit Kopfstößen zur Wehr – einer Bewegung, die vermutlich zum einen aus dem Repertoire des brasilianischen Capoeira stammt und zum anderen von der brasilianischen Handpuppentradition des „Mamulengo“ beeinflusst war. Mamulengo, das wie Camarinhas aus Pernambuco stammt, ist die brasilianische Variante des volkstümlichen Handpuppenspiels. Die Bezeichnung bezieht sich nicht etwa auf den Namen der Hauptfigur (denn anders als in den europäischen Traditionen gibt es oft mehr als einen Helden), sondern auf eine besondere, wendige Art der Figurenführung (wörtlich übersetzt bedeutet Mamulengo „weiche Hand“), die diese Technik einzigartig macht. Die Forschung geht davon aus, dass diese Theaterform in der Kolonialzeit entstanden und durch den damit verbundenen Kulturkontakt in der Bevölkerung geprägt worden ist. Capoeira hingegen, eine Mischung aus Tanz und Kampfsport, wurde ursprünglich von den brasilianischen Sklaven praktiziert, um sich auf eine kommende Rebellion gegen die Sklavenhalter vorzubereiten. Anzunehmen ist, dass die Handpuppe Misericordia Campana daher letztlich gar keine genuin uruguayische Erfindung, sondern das Zeugnis eines brasilianischen Kulturimports darstellt. Gustavo Martínez Barbosa leitet ein Figurentheatermuseum im uruguayischen Küstenort Maldonado, ist selbst Figurenspieler (2008 entwickelte er mit seiner Kompanie das Stück „Ambrosio, el campanero de la Matriz“ über das Leben des Glöckners) und schreibt an einem Buch überFigurentheater in Uruguay. Er ist sich sicher: diese Puppe, die man heute als erste uruguayische Handpuppe in Ehren hält, war eigentlich eine „klassische“ brasilianische Mamulengo-Figur. Er glaubt nicht einmal, dass Camarinhas der Einzige gewesen sei, der zur damaligen Zeit in Uruguay Puppentheateraufführungen gegeben hat. Allerdings sei er aufgrund seiner hohen Popularität der einzige Puppenkünstler, über den heute Aufzeichnungen existieren. Denn die offizielle (Kunst-)Geschichtsschreibung, so Martinez, habe solch „niedere“, tumb-satirische und nicht zuletzt traditionell regierungskritische Formen schlicht ignoriert. Und tatsächlich kennen wir heute kein einziges Misericordia-Stück. Aber man weiß, dass Sätze wie „Komm, wir gehen zu Misericordia“, stellvertretend für die Aufforderung zu einem Puppentheaterbesuch benutzt wurden.[3.] Es war auch Montevideo, von wo aus sich im Laufe der folgenden Jahre schließlich so etwas wie eine eigene Puppentheatertradition am Rio de la Plata entwickeln sollte. Zur Figur des Kreolen Francisco bzw. Misericordia kamen noch seine Frau, die tangotanzende Negra Pancha, der strenge spanische Schulmeister Don Protasio, der Jüngling Teresito, sowie Charaktere aus den Kolonien dazu: „der Genuese“, „der Baske“, „der Galizier“, „der Franzose“ und „der Engländer“. Es schien sich ein populäres Theater herauszubilden, dass sich, wie das brasilianische Mamulengo, die vom Kulturkontakt geprägte zeitgenössische Bevölkerung zum Vorbild nahm. Es lässt sich letztlich nicht nachweisen, ob ein grünhaariger, buckliger Glöckner das Handpuppentheater wirklich nach Uruguay gebracht hat; und die Frage nach der Herkunft lässt sich bei einem Phänomen, dass sich aus so vielfältigen kulturellen Einflüssen zusammensetzt, ohnehin nur schwer beantworten. Was sich zumindest feststellen lässt: aufgrund seines exzentrischen Charakters und seiner außerordentlichen Popularität hat sich Misericordia Campana ins kulturelle Gedächtnis des Landes eingebrannt und diese Theaterform nachhaltig geprägt.

[1.] Der Kirchplatz lag damals auf dem topographisch höchsten Punkt der Stadt.

[2.] Ein solcher Tanz, allerdings mitten in der Kirche, soll auch der Grund für seinen späteren Ausschluss aus der Gemeinde gewesen sein.

[3.] Weitere populäre Bezeichnungen für diese Figur waren „Francisco“ (eine Anspielung auf das Franziskanerkloster, aus dem Ambrosius kam?) und „el negro Pancho“ (der Schwarze Pancho).

Weiterführende Literatur:

Primärquelle: - Muñoz, Daniel: Misericordia Campana. Montevideo, 21.11.1882 (http://www.autoresdeluruguay.uy/biblioteca/daniel_munoz/docs/articulos/Misericordia_Campana.htm).

Sekundärquellen: - Jurkowsky, Henryk (Hg.): Encyclopédie mondiale des arts de la marionnette. L’Entretemps (Montpellier) 2009.

- Klein, Teodoro: El actor en el Rio de la Plata. Asociación Argentina de Actores (Buenos Aires) 1984.

- Maria, José: Historias del viejo Montevideo. Editorial Arca, Tomo I, Montevideo, 1967

- Pérez, B.; Martínez Barbosa, G.; Ditchekenián, R.: El títere en el aula. Maldonado 2014 (http://www.anep.edu.uy/proarte/phocadownload/publicaciones/el_ttere_en_el_aula%202.pdf). - Rodriguez, A.; Loureiro, N.: Cómo son los títeres. ARTEGRAF (Montevideo) 1971. - Rossi, Vicente: Teatro nacional rioplatense. Solar/Hachette (Buenos Aires): 1910. http://www.takey.com/Thesis_36.pdf

Foto: Plaza Matriz Monetvideo im Jahr 1868; Quelle: uruguayisches Fotografie-Archiv (http://cdf.montevideo.gub.uy/catalogo/foto/0883fmhb)