Vorgestellt: Li Kemme
Hallo Li!
2019 hast du dein Figurentheaterstudium in Stuttgart beendet und den Fritz-Wortelmann-Preis für die Installations-Performance „Echo of an End“ gewonnen. Wie ging es danach für dich weiter?
Gefühlt bin ich nach dem Studium von der Premierenbühne unserer Bachelorinszenierung (Britta Tränkler in Regie) mit dem Titel: „Ich bin gut isoliert“ in ein kollektives Bandprojekt mit Objekttheaterbezug und Konzertatmosphäre gesprungen: „Gerdas Knochen“. Wir (Coline Ledoux, Marius Alsleben, Britta Tränkler) wollten die Theatersitzanordnung aufbrechen, gemeinsam neue Räume schaffen, feiern, mit Publikum auf der Bühne tanzen und gleichzeitig unseren Inhalten ästhetischen und theatralen Ausdruck verleihen. Sagen wir mal so, der Anspruch war hoch, aber ein toller: wir wollten Leute aus der Konzert- und Barszene ins Theater holen und das Theater in den Club bringen. Erste „trashige“ Versuche machten wir bereits während des Studiums und das kam richtig gut an. Vom Underground in die Öffentlichkeit ging es dann quasi durch eine Aufführung 2020 bei der Imaginale. Wir haben eigentlich alle alles gemacht, ich habe dabei gesungen, Texte gesprochen, mit Motoren und z. B. Pürierstab Musik gemacht, aber auch ein paar Akkorde auf der Gitarre geschrammelt.
"Gerdas Knochen", v.l.n.r.: Marius Alsleben, Coline Ledoux, Li Kemme. Foto: Silke Schenker
Rückblickend war das eine sehr wertvolle Erfahrung, allerdings ist sie etwas untergegangen in meinem und unserem Bewusstsein. Aus sozialpolitischem Anspruch wollte ich kollektiv arbeiten, gleichzeitig stellte ich aber fest, dass mir die Arbeit allein auch ein wichtiges Bedürfnis ist. Darüber hinaus war es schwierig, Fördergelder für ein solch unkonventionelles Projekt zu bekommen und das Publikum aus seinem gewohnten Verhalten zu locken. Wir wollten alles auf einmal verbinden: Arbeit, Freizeit und Feiern innerhalb einer geregelten Förderstruktur. Songs hatten wir schon geschrieben – denn eine Band fängt nicht erst an zu spielen, wenn sie Geld hat – aber wir alle wollten vom Theatermachen leben…
Direkt danach habe ich mit der Kompanie 1/10 eine Lectureperformance entwickelt, die sich mit Feminismus und Barbie beschäftigt. Damit sind wir leider in den ersten Lockdown geraten und die Premiere konnte sehr lange nicht so stattfinden wie geplant. Es gab Online-Aufführungen, obwohl die Arbeit nicht dafür konzipiert war, später gab es dann ad hoc Live-Performances, obwohl sie für die Onlinepräsentation umgearbeitet wurde.
Corona fiel also unmittelbar mit deinem Start als Künstler:in in der Freien Szene zusammen. Wie bist du damit umgegangen?
Zuweilen denke ich, es war eher überfordernd als herausfordernd. Im ersten Jahr von Corona gab es viel mehr Raum für Reflexion als für praktische Tätigkeiten. Dazu gehörte ein ständiges Anfahren, Abbremsen, Hoffen und Absagen von tollen Spielmöglichkeiten. Dabei wollte ich nach meinem Studium endlich praktisch tätig sein. In dieser Zeit habe ich viel über den Sinn von Kunst nachgedacht, was mich zusätzlich gehemmt hat, ins künstlerische Tun zu kommen. Dennoch waren und sind diese Gedanken wertvoll, die ich auch mit vielen anderen geteilt habe, denen es ähnlich ging, zumal ich denke, dass alle krisenhaften Prozesse sich ihren Weg in die künstlerische Praxis bahnen.
"Heart", Li Kemme. Foto: Privat
In deinen bisherigen Arbeiten bist du mal als performende Person, mal konzeptuell, mal bauend, mal dramaturgisch und mal als Outside-Eye aktiv. Ist diese Vielfalt symptomatisch für Studierende der HMDK Stuttgart?
Diese Vielfalt bringen die Leute mit und das Studium in Stuttgart gibt Raum dafür und bestärkt das Ausprobieren. Das konnte ich zumindest bei vielen beobachten. Allerdings nehme ich wahr, dass es auch einen Diskurs darüber gibt, ob dadurch vielleicht die Professionalität verloren geht, wenn alle Vieles nur ein bisschen können. Ich habe mich das früher auch oft gefragt, ob es besser ist, wenn eine:r etwas „richtig“ kann? Ich schätze die Zusammenarbeit mit Expert:innen sehr und gleichzeitig finde ich, wenn du für etwas brennst, dann go for it! Alle gehen ihre eigenen Wege und etwas gut zu können, ist nicht zwangsläufig das Spannendste! Vielleicht ist es auch eine Frage der Generationen. War die Spezialisierung früher besser? Und welches Potenzial steckt in jetzigen Entwicklungen?
Das ist ein spannender Punkt! Beim Double-Diskurs „Netzwerken gegen die Angst“ auf der FIDENA 2022 hast du eine Naturmetapher beigesteuert, um über den Generationenwechsel im Theater nachzudenken. Dabei ging es um einen Baum...
Ja, es gibt den „Tachigali versicolor“, oder auch „Suicide Tree“ genannt. Er blüht nur einmal im Leben und trägt dann giftige Samen. Die fallen um ihn herum zu Boden und lassen den Mutterbaum langsam absterben. Die kleinen Keimlinge wachsen geschützt heran und zu einem bestimmten Zeitpunkt fällt der Mutterbaum um, damit eine Lichtschneise entsteht, die dem Nachwuchs Licht und Raum zur Entfaltung gibt. Mit dieser Metapher war nicht gemeint, dass die ältere Generation komplett abtreten soll, sondern eher, dass sie gemeinsam mit dem Nachwuchs in Kontakt stehen, ihn befördern soll und zum richtigen Zeitpunkt Macht übergibt. Ein Generationenwechsel muss mit Vorlauf eingeläutet werden, ohne sich zu schnell aus dem Staub zu machen und ohne von den kleinen Keimlingen abgesägt zu werden. Wobei die Theaterinstitutionen, die ich kenne (Westflügel/Fitz/Schaubude), sind generell sehr offen und zugewandt und sie wollen sich auch mit jungen Künstler:innen weiterentwickeln. Ich finde es extrem wichtig, dass immer wieder neue Forderungen gestellt werden, dabei aber von der jüngeren Generation nicht vergessen werden darf, welche Kämpfe schon gekämpft wurden und dass die Errungenschaften älterer Generationen auch Respekt verdienen. Veränderungen brauchen Zeit, sie müssen intrinsisch passieren und immer im Austausch mit ihrer Umgebung.
Der Aspekt der Umgebung passt gut dazu, dass deine universitäre Laufbahn mit einem Geographiestudium begann.
Ja, ich wollte unbedingt Geographie studieren, denn physische Geographie und Humangeographie eröffnen superspannende Perspektiven: Auf ein Stück Land kann man nicht nur mit einem Blick gucken. Wo verlaufen Grenzen, wer hat es bewohnt, was wächst dort, welche Konflikte gab und gibt es, was war da früher und unter dem Boden? Das Geographiestudium habe ich allerdings nicht beendet. Zu dieser Zeit wurde Aktivismus für mich viel wichtiger und ließ sich nicht mit einem starren Unisystem vereinen. Aber ich hege auch großes Interesse an Astronomie und Wissenschaft generell. Ich hätte schon Lust, auch noch Physik zu studieren – ob ich die Konzentration dafür hätte, ist die andere Frage, schließlich will ich eigentlich alles auf einmal machen.
Du hast 2015 auch noch einen Abschluss in Theaterpädagogik gemacht. Inwiefern hat dieses Studium Einfluss auf dein künstlerisches Schaffen?
Ich habe durch die Theaterpädagogik sehr viel in Bezug auf Gesprächsführung und Gruppenprozesse gelernt. Mein Bachelor-Abschlussstück war mit Senior:innen und das war eine schöne Erfahrung, aber aktuell will ich lieber selbst im künstlerischen Prozess sein und weniger andere in den Prozess bringen.
In deinen bisherigen Produktionen überwiegen Performances und die Arbeit mit Objekten, Körpern und Musik. Welche Beziehung hast du zum Puppenspiel?
Eine „klassische“ Puppe ist mir irgendwie noch nicht so richtig begegnet. Es mag etwas merkwürdig klingen, aber ich habe bei einer Puppe das Gefühl, dass sie eher zu mir kommen muss, als dass ich sie baue, suche oder in Auftrag geben würde. Ich habe auch großen Respekt vor dem Verwenden von Puppen in Inszenierungen. Es scheint mir so, als müsste vor allem sie präsent sein und alles müsste aus ihr heraus entstehen, so dass sie nicht einfach „nur benutzt“ wird. Dafür bräuchte ich also als Erstes diese Puppe. Und gleichzeitig beziehe ich mich bei meinen Arbeiten auf eine Herangehensweise, die dem Puppenspiel meiner Meinung nach entspringt: die Kunst der Animation. Darunter verstehe ich eine Haltung der Offenheit und Respekt gegenüber der Puppe oder dem Material. Ich sehe Chancen darin, dem Material als eigensinnige:n Spielpartner:in gegenüber zu sein, die:der Impulse gibt und aufnimmt, gerne auch störrisch – ich lasse mich gerne animieren. Bei der Performance „Stress - ein sinnliches Spektakel“ mit der Gruppe CIS in Stuttgart gab es für mich überhaupt kein Objekt oder eine Figur, aber meine gesamte Performance-Entwicklung stammte aus der tiefen Beschäftigung mit den Ecken, Winkeln und Ritzen in Räumen. Puppen- und Figurenspiel ist für mich im schönsten Falle – vielleicht ähnlich wie bei der Geographie – eine Möglichkeit, unendlich viele Perspektiven über ein Ding in Körper und Raum zu bringen.
Vielen Dank an Li Kemme!
Das Interview führte Christofer Schmidt