Die aktuelle Kritik

FFT Düsseldorf: Half Past Selber Schuld zeigen "Pinocchio Sanchez"

von Julian Gerhard

Bizarre Zwitterwesen aus Mensch und Comicfigur erzählen das alte Märchen von der Holzpuppe neu.

 

Pinocchio Sanchez

 

Das Melodram vom „wahren“ Pinocchio

Die Düsseldorfer „half past selber schuld“ haben mit ihrem schrillen Erzählmedium „Bühnencomic“ eine große Fanbase aufbauen können und befinden sich auf dem besten Weg, zur eigensinnigen Kult-Truppe zu avancieren. Ihr Versprechen in „Pinocchio Sanchez“, die „wirkliche“ Story jener holzigen Märchenikone zu erzählen, ist ein großes.

 

Die ursprüngliche Geschichte Pinocchios ist unglaublich vertrackt: Überall ist die Puppe, die so gerne ein echter Junge wäre, Versuchungen ausgesetzt. Es ist ein steter Kreislauf zwischen leichtfertigen Fehltritten, dem großen Bereuen und einem kurzweiligen Zurückfinden auf den rechten Weg. Im Hintergrund schwingt stets die elterliche Besorgnis von Vaterfigur und Pinocchio-Konstrukteur Geppetto mit.

 

Unheimliches findet sich bereits im Original an allen Ecken und Kanten: So lebt und spricht der Holzklotz, aus dem Pinocchio erschaffen wird, bereits vor dem ersten Ansetzen des Hobeleisens. Pinocchio kommt an surreale Orte, lässt sich zeitweise etwa im hedonistischen „Paradies der Nichtstuerei“ gehen, wo er irgendwann schlagartig in einen Esel verwandelt wird. Dieser wird dann wiederum von Schurken dazu genötigt, in einem Zirkus Kunststücke aufzuführen, bei denen er sich schwer verletzt. Weil er so schlecht weiter beschäftigt werden kann, soll der Pinocchio-Esel daraufhin ersoffen werden, um seine Haut für den Bau einer Trommel zu nutzen. „half past selber schuld“ haben sich kein harmloses Märchen ausgesucht – Pinocchio ist bereits ohne ihr Eingreifen durchsetzt von Verstörendem.

 

In „Pinocchio Sanchez“ liegt der Fokus auf innovativen Erzählformen. Figuren die von vermummten Puppenspielern über die Bühne bewegt werden, bizarre Zwitterwesen aus Mensch und Comicfigur, flache Objekte, die durch ihre Bemalung jedoch dreidimensional erscheinen und der Einsatz von brillantem Schattenspiel erzeugen einen Mix, der dem Zuschauer immer wieder neue, fantasievolle Raffinessen vor Augen führt.

 

Dieses Figurentheater schafft es par excellence, Raum und Zeit losgelöst von allen Naturgesetzen neu zu verhandeln. Auf der schwarzen Guckkastenbühne machen die Figuren riesige Sprünge, plötzlich wechselt bei einem Kampf das Tempo auf Superzeitlupe, wodurch die Aufmerksamkeit auf besondere Details gelenkt wird. Jede Art von Größenverhältnis ist darstellbar – Pinocchios bekannter Grillenfreund leitet mit schriller Stimme den Abend als Erzähler ein, bevor dieser von einem überdimensionalen Zeigefinger, getragen von mehreren Figurenspielern, ein erbärmliches Ende durch Total-Zerquetschung findet.

 

Erzählerisch bahnbrechend ist die Aufdeckung des „wahren“ Pinocchio, welcher in dieser Geschichte von einem Archäologenteam 2005 auf einem verlassenen italienischen Friedhof entdeckt und folglich entschlüsselt wird, nicht. Er ist praktisch ein gewöhnlicher Waisenjunge, der mit sechs Jahren aufgehört hat zu wachsen. Der kleine Kerl mit stets bläulich angelaufenem Kopf, landet noch im Kindesalter auf den Straßen von Florenz, trifft auf zwielichtige Gestalten und geht Schlägereien nicht aus dem Weg. Man könnte meinen, er hätte ohnehin nichts zu verlieren, doch dann schlägt ihm eine Kuh auch noch die Nase ab.

 

Als Jugendlicher schließt er sich dem Militär unter Napoleon Bonaparte an – er wird „Kriegstrommler“. Die Zuschauer bekommen eine tänzerische Choreografie mit bewaffneten Soldaten, einer humanoiden Kanonenkugel und dem wild trommelnden Pinocchio zu sehen. Bizarrerweise scheint der Schützengraben eine riesige Gaudi für sie darzustellen, bis die Kanonenkugel plötzlich im Friendly-Fire-Verfahren Pinocchio Sanchez am linken Bein trifft und er beinahe an seinen Wunden verendet.

 

Dem völlig irren Carlo Collodi, im wahren Leben einst Autor des Kinderbuchs Pinocchio, gelingt es den Kriegsveteran zu entführen. Er amputiert ihm die Beine und ersetzt sie durch spezielle Holzkonstruktionen. Der Amateur-Chirurg gebraucht seine medizinischen Instrumente gegen den Willen seines „Patienten“ und durch eine Schattenwand deutet sich sehr milde der Splatter-Einfluss an, mit dem die Inszenierung angekündigt wurde. Eine neue Nase aus Holz gibt es auch noch obendrauf.

 

Viele bekannte Elemente der traditionellen Geschichte „Pinocchio“ sind bei „Pinocchio Sanchez“ vorhanden – wir sehen die Grille, Trommel und Zirkus tauchen auf und die Nase aus Holz ist auch dabei. Es bleibt jedoch beim Sich-Erinnert-Fühlen, das scheinbar Bekannte steht hier in einem ganz anderem Kontext, weit weg von Logik und Atmosphäre eines heimeligen Märchens.

 

Die letzte Station des nun erwachsenen transhumanen Pinocchio ist in der Version von „half past selber schuld“ ein Zirkus, bei dem er sich während seiner Show (bei der er nun auch einmal die signifikante Nase als choreographisches Stilmittel ausfährt) das Genick bricht.

 

Die Inszenierung an sich ist als eine Art szenische Collage mit Rahmenhandlung zu verstehen, die Stationen aus dem Leben dieses neu gedachten Pinocchio nutzt, um gesellschaftliche Orte wie Zirkus, Saufgelage und dreckige Straßengassen mit zahlreichen Mitteln des Figurentheaters zu behandeln. Dabei verliert sie sich manchmal träumerischen in aquarienartigen Sequenzen, bei denen sich viel Illusionistisches überschneidet. Die für die Produktion entwickelten Songs verpassen den Schauplätzen ein besonderes Flair und für Momente wird man beispielsweise in die verwegene Stimmung eines Italowesterns gerissen.

 

Acht komplett mit schwarzem Stoff verhüllte Silhouetten treten am Ende zum Applaus an die Bühnenkante. Sie nehmen die Bedeckungen ab, die bislang den Kopf rundum verhüllt haben und wir sehen eine Frau und sieben Männer – vier von ihnen klebt ein kleines Mikrofon am Gesicht, was die Frage von „Sprechen und singen die das tatsächlich live?“ endlich klar für alle beantwortet.

 

Detailreiches Figurenspiel und die gleichzeitige, wohltemperierte Stimmenperformance zeugten von großer Virtuosität. Der besondere erzählerische Thrill, welcher das Publikum vor allem in den ersten Minuten bannte, verlor sich leider nach und nach und am Ende stand die Qualität des dramaturgischen Gesamtkonstrukts, in keinem Verhältnis zur sonstigen schöpferischen Fähigkeit von „half past selber schuld“.

 

 

Premiere: 15. April 2015

 

 

 

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