Düsseldorfer Schauspielhaus: "Wolf"
20. Dezember 2024
Endlich frei. Blöd nur, wenn die Mutter dich ungefragt zum Ferienlager anmeldet. Und vor Ort auch noch öde Wandertouren und permanente Bespaßung angesagt sind. Die Requisiten dazu befinden sich im Jungen Schauspielhaus Düsseldorf an einer Holzwand an der Seite: Frisbee, Thermoskanne, Bratpfanne, Ukulele und sehr viel Toastbrot. Kemi, toll und eigen gespielt von Hannah Joey Huberty, trägt rote Locken, Jeansjacke, bunte Shorts und ist auf den ersten Blick meilenweit von üblichen Coolheits-Kategorien entfernt – stattdessen: störrisch, selbstbewusst und ziemlich reflektiert. Kemis Haltung ist glasklar: „Ich lehne die Natur ab“. Am liebsten zieht Kemi sich zurück und liest – auch das passt leider nicht so ins Team aus Jugendlichen und Betreuer*innen, die fröhlich permanent über die Bühne poltern. In wechselnden Rollen verkörpern die Schauspieler*innen Leon Schamlott, Ayla Pechtl, Natalie Hanslik und Felix Werner-Tuschku insgesamt acht Figuren.
Ein prachtvolles Bühnenbild hat Rosanna König gestaltet, das die Sommerzeit in der Natur atmosphärisch lebendig macht: ein riesiger, mehrdimensionaler Kulissenwald entsteht da, eine Plan-Landschaft wie aus dem 19. Jahrhundert. Und in eine Ecke wird noch das Rückzugszimmer von Kemi gerollt, liebevoll detailliert und lebensecht gestaltet bis hin zur gemusterten Tapete und den Vorhängen um das Stockbett. Schön ist, dass durch eine Kooperation mit Un-Label, deren Inklusionskompetenz den gesamten Probenprozess begleitet hat, das Bühnenbild vor der Vorstellung im Rahmen einer Touch-Tour für blindes und sehbehindertes Publikum ertastet werden kann – auch Audiodeskription steht zur Verfügung.
Als Mitbewohner von Kemi wird ausgerechnet Jörg eingeteilt, zwei Außenseiter zusammen: „Jörg ist wie alle eigen und wie alle anders, er wird aber von den anderen noch mal andersiger gemacht, verstehst du?“, spricht Kemi zum Publikum. Ob das bei ihnen ankommt? Saša Stanišićs poetische, etwas sperrige Sprache ist für Jugendliche herausfordernd, zumal auf einer Bühne. Felix Werner Tutschkas „Jörg“ ist das Andersartige von außen nicht unbedingt anzusehen, außer, dass er eine etwas nerdige Weste trägt – aber so ist es ja auch meist im wahren Leben. Und: er zieht sich ebenfalls zurück, beobachtet die anderen lieber und wird wohl genau deshalb zu ihrem Mobbing-Opfer. Irritierend ist dennoch, dass seine Ausgrenzung in der Inszenierung von Carmen Schwarz lange nur indirekt behauptet wird, direkte Beispiele von Mobbing sieht man kaum. Um diese Art von Gewalt nicht zu reproduzieren? Leider bleibt sie so zugleich recht unkonkret und auf der Bühne kaum wahrnehmbar, weder Gruppendynamik noch Eskalation, die im Buch so fein ausgearbeitet sind, werden so deutlich.
"Wolf": Ayla Pechtl, Leon Schamlott, Hannah Joe Huberty, Felix Werner-Tutschku, Natalie Hanslik (v.l.n.r) © David Baltzer
Lange dauert es im Jungen Schauspiel Düsseldorf auch, bis zum ersten Mal der Wolf in der Theaterfassung von Saša Stanišićs erstem Jugendbuch „Wolf“ auftaucht, das 2024 mit dem Jugendliteraturpreis ausgezeichnet wurde. Kemi spürt zugleich immer stärkere Zuneigung zu Jörgs in sich ruhender Andersartigkeit. Hannah Joey Huberty spricht seine widerstreitenden Gefühle meistens ein wenig von der Gruppe entfernt direkt ins Publikum. Und traut sich trotzdem nicht, etwas gegen die Mobber*innen zu unternehmen, wird deshalb vom schlechten Gewissen geplagt. Ist das der Grund, warum ein Wolf mit glühenden Augen nachts durch die Waldkulisse blickt? Eine Art moralisches Über-Ich? Ein Symbol der diffusen Angst, sich zu exponieren und Haltung zu zeigen? Fast ganz abgedunkelt ist der Theatersaal, und beim Auftauchen der Wolfspuppe geht ein spürbar respektvolles Raunen durch die Reihen der bis dahin recht lautstarken Sieben- bis Achtklässler. Nur ganz kurz taucht der plüschige Wolfskopf immer wieder hinter dem Pappmaché-Gebüsch auf, fällt wie ein archaischer Fremdkörper ein ins ansonsten eher konventionelle Stadttheater-Setting – ein schön untergründiger Grusel-Effekt, der daran erinnert, dass es andere Wahrnehmungsebenen gibt.
Dann ist wieder helles Bühnenlicht angesagt, werden die Ferienlager-Aktivitäten von schön eingefangenen, eher ahnungslos-naiven Betreuer*innen durchgesetzt. Immer wieder bricht Kemi aus der Zwangs-Bespaßung aus, bis Kemi sich im Wald verläuft, rastlos in einer erdgefüllten Kiste auf der Stelle tritt. Immer wieder schließt Kemi auch Freundschaften gegen den Mainstream – neben Jörg ist es auch der Koch, der seinen klapprigen Topf auf die Bühne schiebt – und ist doch zu feige, dafür einzutreten. Immer häufiger taucht der Wolf auf, manchmal sieht man nur seine Augen – bis er sich zum Schluss, gespielt von Leon Schamlott, als geführte Puppe zu erkennen gibt – und sich letztlich zu den Jungen ins Zimmer legt: „Kommt näher, habt keine Angst“. Und deshalb kann Kemi am Ende auch, als das Mobbing beim Klettern eskaliert, endlich über sich hinauswachsen. Doch auch wenn die Inszenierung von „Wolf“ am Jungen Schauspielhaus fantasievoll, bilderstark und ideenreich ist, so hat sie mit zwei Stunden Spieldauer doch einige Längen, bleibt an wichtigen Stellen zu abstrakt – und bräuchte etwas mehr Zuspitzung, um das Thema Mobbing, Empathie, Anderssein und echte Freundschaft näher an die Lebenswirklichkeit der Kinder zu bringen.
Düsseldorfer Schauspielhaus, Junges Schauspiel: "Wolf"
Mit Hannah Joe Huberty, Leon Schamlott, Ayla Pechtl, Natalie Hanslik, Felix Werner-Tutschku | Regie Carmen Schwarz | Bühne und Kostüm Rosanna König | Musik Philipp Koelges | Puppenbau und Animationsbegleitung Léa Duchmann | Licht Konstantin Sonneson | Dramaturgie Kirstin Hess | Theaterpädagogik Thiemo Hackel | Access-Beratung Un-Label (Amy Zayed, Charlott Dahmen, Joy Bausch)
Premiere: 5. Dezember 2024
Dauer: 2 Stunden, inkl. Pause
Ab 10 Jahren
Infos und Spieltermine auf der Website des D'haus