Schattentheater Festival Schwäbisch Gmünd
31. Oktober 2024
Blumen und wachgeküsste Lippen tanzen über die Projektionsfläche der Johanniskirche aus der Stauferzeit in Schwäbisch Gmünd. Die Künstler:innen der Gruppe Lichtbende aus den Niederlanden tauchen das Gotteshaus in ein neues Licht. Zur Musik der US-amerikanischen Komponistin Meredith Monk und des 1685 geborenen Georg Friedrich Händel legen sie Tiefenschichten in William Blakes „Garden Of Love“ offen. In seiner Poesie zeigt der romantische Dichter die dunkle, schmerzliche Seite des erotischen Erwachens. Denn Kirche und Politik sehen das nicht gern. Beim Internationalen Schattentheaterfestival in der ältesten Stauferstadt Baden-Württembergs zeigen die Ensembles aus Deutschland und Europa nicht nur die Vielfalt ihrer Kunst. Mit den neuen technischen Möglichkeiten erweitern sie das ästhetische Spektrum.
Blakes Poesie driftet zwischen Sprachkunst und romantischer Bildervielfalt. Lichtbende nehmen in „Garden of Delight“ das Publikum auf die Reise in einen paradiesischen Garten mit. Seit 2010 erschafft das Ensemble aus Amsterdam Gesamtkunstwerke mit Orgelmusik, Gesang und Saiteninstrumenten. Gelbe, rote und blaue Frühlingsblumen sprießen da in den Himmel. Hoffnungsvoll tanzen rote Stöckelschuhe auf der Projektionsfläche. Doch die Dunkelheit bremst dieses Gefühl des Aufblühens, wieder und immer wieder. Virtuos spielen die Lichtkünstler mit Farben und Schattenbildern. Klug sind die Musik und die Bildkomposition aufeinander abgestimmt. Technische Perfektion und die Kraft der Kompositionen aus so unterschiedlichen Epochen der Musikgeschichte prägen die bemerkenswerte Arbeit.
"Garden of Delight" © Lichtbende
„Das immense Spektrum des Schattentheaters zu zeigen“, war das Ziel von Iris Meinhardt. Die künstlerische Leiterin hat das Festival von der 2023 verstorbenen Dramaturgin Sybille Hirzel übernommen, die es seit dem Jahr 2000 zum Erfolgsmodell gemacht hat. Nicht nur die internationale Szene trifft sich während der Festivalwoche im Kulturzentrum Prediger. Auch das Publikum in Schwäbisch Gmünd lässt sich lustvoll auf die Kunst des Schattentheaters ein. So kam auch die neue Festivalleiterin selbst zu ihrer Kunst, denn sie ist in der Stadt aufgewachsen. Nach dem Figurentheater-Studium an der Hochschule für Darstellende Kunst in Stuttgart arbeitet sie mit ihrer Gruppe Meinhardt & Krauss an der Schnittstelle von Figurentheater, Medienkunst und zeitgenössischer Musik.
Dieser innovative Ansatz spiegelt sich auch im Konzept des einwöchigen Festivals. In der historischen Johanniskirche, die unter anderem durch die staufische Pfeiler-Madonna Touristen anlockt, haben Studierende des Figurentheater-Studiengangs ein futuristisches Zukunftslabor aufgebaut. In „ZO-ON“ beziehen sie auch die Zuschauer:innen mit ein. Sie bekommen schwarze Kragen übergestreift und dürfen ihre Köpfe in eine riesige, luftgefüllte Blase stecken. Da weht erst mal ein rauer Wind. Mit ihrem Professor Florian Feisel haben die Studierenden ein Konzept entwickelt, das die Zuschauer:innen zu Mitspieler:innen macht. Mit einer ausgeklügelten Lichtprojektion werfen sie die Schatten des Publikums und ihre eigenen auf die weiße Wand des Ballons. Klänge erfüllen den Raum. Die Körper beginnen zu fliegen. Dann bewegt sich eine Hand sachte zur Nachbarin. Die ergreift sie spontan. Mit dem zarten Händedruck erreicht das Abenteuer in der Schattenwelt eine neue Dimension. Er überwindet das Gefangensein in der Dunkelheit. Dieses Spiel zwischen Nähe und Distanz verblüfft. Nicht nur technisch ist die Produktion bemerkenswert. Mit dem immersiven Konzept erreichen die jungen Schattenspieler:innen auch ein Publikum, das sonst eher schwer für Theater zu begeistern ist.
"ZO-ON" © Kulturbüro Schwäbisch Gmünd
Auch von der internationalen Perspektive profitierte das Festival der Schattentheater. Für einen Impulsvortrag kam die Australierin Karen Smith. Sie ist Präsidentin der UNIMA, des Weltverbands der Puppenspieler:innen. Sie arbeitet seit 1982 im Figurentheater. In Indien und Indonesien ließ sie sich in der Kunst des Schattentheaters fortbilden. Den Aufbau des Festivals in Schwäbisch Gmünd hat die Künstlerin seit der ersten Auflage im Jahr 1988 unterstützt. Damals begründete Schattenspieler Rainer Reusch die besondere Veranstaltungsreihe. Sie machte das Publikum mit dem indonesischen Figurenspiel Wayang Kulit vertraut. Die kunstvoll gemalten Figuren werden aus Büffelhaut hergestellt. Themen sind die bekannten Epen wie Mahabharata oder Ramayana. „Aber auch politische Themen greifen die Spieler:innen auf“, weiß die Expertin. Viele von ihnen sind in Familienbetrieben ausgebildet worden. Sie geben die Tradition an ihre Kinder weiter.
"Amarbarì" © Kulturbüro Schwäbisch Gmünd
Generationen mit dem Festival zu erreichen, das ist der kommunikativen Künstlerin Meinhardt wichtig. Deshalb hat sie mit dem Theater Unterwasser aus Rom eine Gruppe eingeladen, die Erwachsene wie auch Kinder zu Fantasiereisen entführt. In „Amarbarì“ sitzen die kleinen Zuschauer:innen auf Turnbänken. Gebannt schauen sie den liebevoll gemalten Fischen, U-Booten und Wellen zu, die sich vor ihren Augen bewegen. In ihrer Imagination blubbert das Meerwasser. Nach der Vorstellung dürfen die Besucher:innen an Lichtquellen selbst ausprobieren, wie sich die Schattenfiguren führen lassen.
Die Allerkleinsten spricht die Produktion „Sous la table“ (deutsch: unter dem Tisch) an. Da lässt die belgische Gruppe Les Zerkiens Familien aus ungewöhnlicher Perspektive an einem Essen der besonderen Art teilnehmen. Dicht an Mama oder Opa angekuschelt, liegen die Kinder auf Sitzkissen und schauen auf die durchsichtige Tischplatte. Die bunten Bilder sind von unten nur verwischt zu sehen. Das beflügelt die Fantasie. Auch die Erwachsenen fühlen sich da in die eigene Kindheit versetzt, als sie hinter die Tischdecke krochen und Fangen spielten.
13. Internationales Schattentheater Festival Schwäbisch Gmünd
11.-17. Oktober 2024
Infos auf der Website vom Schattentheater Festival
Besprochene Produktionen:
Garden of Delight von Lichtbende, Niederlande | ZO-ON von toepfer/feisel, Stuttgart, unter Mitwirkung des zweiten Studienjahres Figurentheater der HMDK Stuttgart | Amarbarì von Unterwasser, Italien | Sous la table – Unterm Tisch von Les Zerkiens, Belgien