Die aktuelle Kritik

Theater der Jungen Welt, Leipzig: "Opium"

Von Franziska Reif

Parfüm im Spiel: „Opium“ ist eine gelungene, assoziative Reflexion zu Rausch und Sucht – mit Figuren, Objekten und Bühnendüften.

11. September 2024

Ballern, ballern, ballern: Drei Leute hocken um ein tortenähnliches Gebilde, das üppig und bunt mit allerlei Dingen dekoriert ist, darunter Rosen, Perlen, ein Vögelchen, eine Spritze und ein medizinischer Beutel. Die drei saugen hingebungsvoll daran und nennen sich belustigt Ballerinas. Die Ballerinas freuen sich am Rausch.

Um den Rausch kreist das Stück von Katharina Kummer als vielgestaltiges Gewebe aus Texten und Bildern, Stimmen und (Live-)Musik, Gesang und Düften. Für die Düfte wurde eigens eine Parfümeurin gewonnen, Stimmen aus dem Off kommentieren das Geschehen oder geben Berichte von Rausch und Sucht wieder. In wechselnden Rollen agieren Luise Audersch, Anso Dautz und Clara Fritsche, die allesamt aus dem Figurenspiel stammen; sie nutzen die Bühne, den Rang und die Publikumsreihen. Dort sitzt die Parfümeurin (gespielt von Magdalena Richard) und wirft Ergänzungen ins Geschehen. Die Bühne dominieren überlebensgroße, stumme Figuren, grau in silberpinken Kleidern, und zwei große zweidimensionale Vasen, einige Stoffbahnen sind verteilt. Hin und wieder leuchten die Augen der Figuren in dämonischem Rot, wechselt die Lichtprojektion auf ihre Oberflächen die Farbe.

"Opium": Luise Audersch, Clara Frizsche, Anso Dautz © Ida Zenna

Audersch, Dautz und Fritsche tragen eingangs ebenfalls silberpinke Kleider, das Kostüm werden sie unterwegs mehrfach wechseln. Zwischendurch haben die die Kleiderstoffe und die Stoffbahnenverschiedene Funktionen: Sie schützen vor Nacktheit, dienen der Abschirmung in einer unwirtlichen Straßenecke, sind Decke, Versteck oder Vorhang. Oder Figuren, die, geführt von einer Spielerin, über ihre Süchte sprechen: Der eine hat seine Libido verloren, der andere ist süchtig nach Selbstbefriedigung.

Los geht es aber mit Opium, der Sonne und dem Kommunismus. Letzterer kommt über die Opium-Epidemie im früheren China, mit Karl Marx und der Religion als Opium fürs Volk ins Spiel. Das führt zur Frage, was der Geruch des Paradieses ist. Wie die Sonne riecht, erfuhr vielleicht nicht einmal Ikarus, der aus der Gefangenschaft davonfliegen wollte und unfreiwillig zeigte, dass auf den Höhenflug der Absturz folgen kann.

Der Ausgangspunkt Opium wird als Flakon von Yves Saint Laurents Parfüm aus dem Jahr 1977 präsentiert, Duftproben inklusive. Es produzierte einen kleinen Skandal: Mehrere Länder verboten den Duft, in den USA konnte er erst eingeführt werden, nachdem nachgewiesen war, dass er keine berauschenden Substanzen enthält. Die Launchparty stieg im Manhattaner Studio 54, der Club, der, nicht lange zuvor eröffnet, schnell mit orgiastischen Ausschweifungen in Verbindungen gebracht wurde. Die Party – Club, Orgie, bacchantische Szenen – thematisiert „Opium“ natürlich; man muss Studio 54 nicht kennen, um zu verstehen, worum es geht.

"Opium": Clara Frizsche, Anso Dautz, Luise Audersch (v.h.n.v.) © Ida Zenna

Was Rausch ist, wo er herkommt und wo er hinführt, dekliniert „Opium“ nicht einfach kapitelweise durch. Assoziativ ergeben sich Themensprünge, wechseln Bildwelten, Musik und Düfte. Regelmäßig hat jemand einen Flakon in der Hand, werden duftende Tücher geschwenkt oder duftende Becher durch die Zuschauerreihen gereicht. Für die Recherche zu diesem sinnenreichen Tableau hat Regisseurin Kummer, von der auch der Text stammt, Gespräche zu Rausch und Sucht geführt. So wägt ein Strafrechtler die individuellen wie gesellschaftlichen Folgen des Drogenkonsums ab und sinniert über den Sinn von Verbot wie Strafe dafür. Natürlich kommt er darauf zu sprechen, dass es sich bei Alkohol und Zigaretten ebenfalls um Drogen handelt, nicht nur bei Opium oder MDMA. Und dann wären neben derartigen Substanzen noch eine Menge andere Dinge, die in Rausch versetzen und süchtig machen können: auf dem Telefon rumdaddeln zum Beispiel, Glücksspiel oder Sehnsucht.

Ohne plakativ zu sein, geht „Opium“ auf mögliche Gründe dafür ein, warum der Rausch überhaupt gesucht wird: Der Mensch hat auf dem Acker hart zu arbeiten, um sich zu ernähren. Die Geltung von Regeln muss auch mal ausgesetzt werden. Die Partynacht will durchtanzt werden, die Müdigkeit ein Ende finden. Ängste wollen vergessen werden. Magersucht will den Körper verschwinden lassen. Die Freiheit ruft, siehe Ikarus, und das Glück. Außerdem: Wer Sorgen hat, hat auch Likör.

Ebenfalls vollkommen unplakativ finden der Kater und der Absturz ihren Platz: die Scham, der körperliche Verfall, der Wahnsinn – Meerjungfrauen schwimmen vorbei – und die Verantwortung, die der Rausch nicht ausschließen kann, Stichwort Gewaltexzesse oder Hitlergrüße. Passend dazu wabert Nebel durch den Raum, während ein barschgroßer Objekt-Fisch mit glubschigen Augen von einer Spielerin im Ganzen verschlungen wird.

"Opium": Luise Audersch, Anso Dautz (v.l.n.r.) © Ida Zenna

Dann treten Audersch, Dautz und Fritsche als Waldgeister auf. Duft und Rausch vertreiben Dämonen, verkleinern die Nähe zu den Göttern, ermöglichen Erleuchtung, (Selbst-)Erkenntnis und Spiritualität: Nicht nur bei der Party mag die Sucht sich als Suche erweisen, Unsterblichkeit wäre doch mal was. Der Wald spiegelt sich im Bildnis einer Waldlandschaft mit Wasser, Blüten und Perlen. Immer wieder erscheint der Dschungel, ist Vogelzwitschern zu hören, ein Wasserschlauch wird zum Waldschrat. Auf der Bühne öffnet sich ein Wasserbecken, in das Audersch, Dautz und Fritsche steigen. Mit elfenhaften Gespinsten auf dem Kopf führen sie Substanzen und ihre rituelle Feier vor. Spätestens jetzt erhält der Rausch eine politische Dimension, weil er Gemeinschaft stiftet und das Kollektiv verbindet.

Die Duftdramaturgie ist ungewöhnlich, überraschend und ein überzeugendes Mittel. Trotz der vielen Aspekte, Ebenen und inhaltlichen Sprünge ist „Opium“ nicht überladen. Fritsche, Audersch und Dautz bleiben souverän im Tempo. Sie binden die verschiedenen Themen und angesprochenen Sinne stimmig zusammen, wechseln problemlos zwischen Hochgefühl und Gosse, zwischen Mystik und Naturwissenschaft, zwischen Antike und Heute – und schaffen es sogar noch, leichtfüßig Gustav Freytags Dramentheorie einzubinden.


Theater der Jungen Welt, Leipzig: „Opium oder: Ich habe Hunger, ich möchte Gott essen

Regie: Katharina Kummer | Ausstattung: Josa Marx | Puppenbau: Alma Bektas | Musik: Carina Wohlgemuth | Parfümeurin: Annette Neuffer | Dramaturgie: Jörn Kalbitz, Ulrike Carl | Theatervermittlung: Veronique Nivelle | Spieler*innen: Luise Audersch, Anso Dautz, Clara Fritsche | Stimmen aus dem Off: Lutz Mailänder, Iva Rießler, Daniel aus dem Lichtbogen | Im Publikum als Annette Neuffer: Magdalena Richard

Premiere: 31. August 2024
Ab 16 Jahren
Dauer: 100 Minuten

Infos und weitere Spieltermine auf der Website des TDJW