Zur FIDENA nehme ich mit: Meine Mama und mein ADHS.
Nachdem ich die FIDENA 2022 im Rahmen eines Seminares der RUB besucht hatte, war ich mir sicher, dass ich – sollte sich die Gelegenheit noch einmal ergeben – sie auf jeden Fall nutzen würde. Schon vor zwei Jahren habe ich unglaublich schöne Stücke gesehen, tolle Künstler*innen kennengelernt und natürlich im Anschluss auch davon erzählt. Mein Sohn, damals noch 9 Jahre alt, war nach jedem meiner Berichte immer ein klein wenig geknickt. Er wäre so gerne mitgekommen. Es war nicht so, dass ich ihn nicht gefragt hatte, denn mit Stücken wie Einmal Schneewittchen, bitte waren ja durchaus Kinder als Zielgruppe angesprochen. Dennoch hatte ich mich am Ende dagegen entschieden ihn mitzunehmen und das aus zwei Gründen. Zum einen hat mein Kind die Angewohnheit, nicht auf Stühlen sitzen zu bleiben, sondern vielmehr ständig die Position zu wechseln. Zum anderen spricht er aus, was ihm in den Sinn kommt. Und das auch während Filmen, Aufführungen oder Reden, was durchaus störend sein kann. Die Vermutung einer möglichen ADHS-Erkrankung hatte bereits damals im Raum gestanden, die Diagnose haben wir schlussendlich erst 2023 erhalten. Rund zwei bis sechs Prozent aller Kinder und Jugendlichen erkranken in Deutschland an der Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung, kurz: ADHS. Häufig zeigt sich die Erkrankung durch Hyperaktivität, Unaufmerksamkeit und Impulsivität, dennoch ist die Symptomatik von Patient*in zu Patient*in verschieden.[1] So kann sich mein Sohn durchaus auf Dinge konzentrieren, die ihn interessieren. Sein Bewegungsdrang, sowie ein sehr vokales Interesse bleiben jedoch auch dabei erhalten. Was sich im Gegensatz zur FIDENA vor zwei Jahren geändert hat, ist meine Einstellung. Ich selbst bin viel ruhiger geworden und habe mein Kind (und seine Symptome) in den letzten Monaten besser kennengelernt. So haben wir zusammen beschlossen, dass wir eben auch seine „Schwächen“ mit in meine Forschung einbeziehen möchten. Wie ist es denn, als Kind mit ADHS ein Theaterfestival zu besuchen? Was ist positiv, was negativ? Hierbei möchte ich anmerken, dass das, was in diesem Text behandelt wird, mit meinem Kind abgesprochen ist, erzählt wird hierbei nur von unseren persönlichen Erfahrungen, sowie Gesprächen, die wir im Anschluss an die Stücke geführt haben. Als also das erneute Angebot eines FIDENAForschungszentrums kam, waren der mittlerweile Elfjährige und ich uns einig, dass er dieses Mal mitkommen sollte. Zusammen durchstöberten wir das Programmheft und entschieden uns für vier Stücke: Die gestiefelte Katze, Grand Hotel Grimm, DING. und Kakao mit Zucker.
Kakao mit Zucker vom KMZ Kollektiv war schließlich auch das erste Stück, das wir uns angesehen hatten, sogar in der Generalprobe, die meinem Kind überaus imponiert hat. Zu sehen, dass auch bei Erwachsenen im professionellen Kontext nicht immer alles perfekt läuft, war etwas, über das wir im Nachhinein noch lange gesprochen haben. Erhält unsere Gesellschaft doch oft diese Illusion aufrecht, dass Erwachsene schon wissen, was sie tun. Für mein Kind war es eine völlig neue Erfahrung, zu sehen, dass auch einen Tag vor der Premiere noch viele Sachen schieflaufen können, dass aber trotzdem der Mut da ist, die Fehler auch vor Publikum zu zeigen. Ein weiterer Punkt, der für mein Kind perfekt zu sein schien, war die Interaktivität des Stückes. Immer wieder wurden wir aufgefordert, unseren Platz zu wechseln. Stuhlreihen suchte man vergeblich, so störte es auch nicht, wenn mein Kind von einer sitzenden in eine liegende Position wechselte. Oder aber man betritt das Innere eines (aufblasbaren Plastik-) Hunds durch dessen Anus. Das sorgte bei dem Elfjährigen für absolute Erheiterung. Den Spruch „Bein, Kopf, rein“, murmelt er auch jetzt manchmal noch vor sich hin und er bleibt einem deutlich im Kopf. Angesteckt von einem entstandenen Gemeinschaftsgefühl, ist mein Sohn sogar über seinen Schatten gesprungen und hat neue Dinge ausprobiert. So zum Beispiel den Verzehr einer biologisch angebauten Kakaobohne, wie auch das Hineingreifen in frisches Kakaopulver. Dass ADHS mit einer ganzen Reihe Symptomen einherkommt, hatte ich bereits angemerkt, oftmals geht es aber auch Hand in Hand mit hochfunktionalem Autismus. Zwei Erkrankungen, die sich jedoch Symptome auf einem Spektrum teilen.[2] Damit einher geht auch eine Überempfindlichkeit für Geräusche und Sinneseindrücke im Allgemeinen. Etwas, was mir bei meinem Kind bis dato nicht aufgefallen war, was aber sehr deutlich wurde, als er plötzlich aufsprang, und darum bat das Pulver sofort abzuwischen, mit Gänsehaut und allem Drum und Dran. Seitdem achten wir vermehrt auf dergleichen Reaktionen. Die Thematik des Stückes hat er schließlich mit in den Politikunterricht genommen. Denn obwohl Kinderarbeit ein sehr schwieriges Thema ist, vermittelt Kakao mit Zucker die Schwere der Thematik auch für ein jüngeres Publikum erfolgreich und das nicht nur mit Fakten, sondern auch eigenen Erfahrungen der Darsteller*innen selbst.
Die Geschichte der Gestiefelten Katze, präsentiert und aufgeführt durch das Theater Zitadelle, ist hingegen weniger komplex, dafür umso bekannter. Mit rund 50 Minuten entspricht das Stück einer ähnlichen Länge wie Kakao mit Zucker und fiel dementsprechend in unser „Mittelfeld der Machbarkeit“, wie man noch sehen wird. Obwohl auch mein Sohn die Geschichte des Gestiefelten Katers schon lange kennt, blieb er beim Stück aufmerksam dabei, was wohl hauptsächlich an der Wandelbarkeit des Bühnenbildes, sowie dem Miteinbeziehen des Publikums lag. Generell war die Darbietung aber auch einfach urkomisch und eben genau auf Kinder zugeschnitten. Das Miauen der Katze werden wir wohl nie wieder aus unseren Köpfen bekommen. Wie in Folge vier des FIDENA-Podcasts „Strippenzieher*innen“ auch zu hören ist.
Ein wenig anders gestaltete es sich mit Grand Hotel Grimm, ebenfalls vom Theater Zitadelle, welches zwar für Kinder ab 12 Jahren empfohlen wird, jedoch am Abend unserer Vorführung hauptsächlich von Erwachsenen besucht wurde. Bereits kurz nachdem wir unsere Plätze eingenommen hatten, stellte sich bei meinem Sohn ein gewisses Unwohlsein ein. Wegen des Publikums, aber auch wegen der Länge von rund 80 Minuten. Aus unseren Erfahrungen heraus wissen wir, dass er – auch wenn ihn etwas überaus interessiert – nicht lange still auf seinem Stuhl sitzen kann. Schauen wir zuhause zum Beispiel einen Film liegt er meist unten auf dem Boden, weil er dort eine größere Bewegungsfreiheit hat als auf der Couch. So etwas funktioniert nun aber nicht im Theater, zumindest nicht immer. Daher war uns von Anfang an bewusst, dass dieses Stück wohl unsere größte Herausforderung werden würde. Tatsächlich kamen während des Stückes aber hauptsächlich Verständnisfragen auf, an denen sich niemand um uns herum groß störte. Auch daran nicht, dass mein Sohn gut nach der Hälfte der Zeit seine Position auf dem Stuhl wechselte. Und das fast alle fünf Minuten. Das Spannendste für mich an diesem Abend jedoch waren gleich zwei Dinge. Zum einen, dass mein Kind nach der Show, da ihn noch etwas beschäftigte, von selbst das Gespräch mit den Künstler*innen gesucht hatte. Da man als Elternteil eben auch nicht auf alle Fragen eine Antwort hat, ermutige ich ihn häufig dazu, die Profis direkt zu Fragen, vor allem dann, wenn sie die Möglichkeit auch anbieten. Zum anderen aber ein Gespräch, welches wir auf dem Rückweg zu unserem Auto geführt hatten. Beim Vorbeigehen an den Puppen, die nun unbespielt auf dem Tisch lagen, bemerkte mein Sohn, dass diese „wie tot“ wirkten. Jetzt muss man dazu sagen, dass mein Sohn ebenfalls Probleme damit hat, Emotionen aus Gesichtern oder der Stimme von Menschen zu erkennen, wenn diese nicht eindeutig sind. Umso interessanter ist es, dass ein Spieler einer Puppe, die oft keine besondere Mimik besitzt und eigentlich auch kein lebendes Objekt ist, in der Lage ist, so zu manipulieren und zu animieren, dass meinem Sohn die Situation und damit verbundene Emotionen vollkommen klar sind, wo er doch bei realen Menschen damit deutliche Probleme hat. Genau das sind Phänomene, die die Puppentheaterforschung für mich persönlich so interessant und wichtig machen. Und auch, warum ich so gerne mit meinem Kind ins Kino oder Theater gehe. Sein Blick eröffnet mir immer neue Perspektiven.
Unser letztes Stück war schließlich DING. von Karoline Hoffmann und mit 35 Minuten auch das Kürzeste. Von der Idee, eben diese Performance zu besuchen, war mein Sohn zunächst gar nicht so begeistert, immerhin ist sie an Kinder ab zwei Jahren und älter gerichtet. Seine größte Sorge war, dass die Kinder dann womöglich noch mehr reden würden als er und kleine Kinder flüstern ja noch nicht so wie große Kinder. Wir hatten uns schließlich darauf geeinigt, dem Ganzen offen entgegenzutreten, und was soll ich sagen, es war am Ende das Stück, was ihm am besten gefiel. Da es viele kleine Zuschauer*innen gab, störte sich eben auch niemand daran, ob geredet wurde oder ob man nun grade in seinem Sitz saß, was mein Kind neben mir deutlich entspannt zurückließ. Hinzu kamen Erkenntnisse, die sich bei mir gar nicht einstellen wollten oder über die ich selbst gar nicht so nachgedacht habe, zum Beispiel, dass das Geräusch, was die Glitzerfolie macht, irgendwie im Kopf kribbelt. Und sich das wohl ziemlich gut anfühlt. Mein Sohn war überaus fasziniert davon, wie viel man mit nur einem einzigen Material machen kann und vor allem was. Als er zum Schluss eines der kleinen Goldfolienstücke mit nach Hause nehmen durfte, formte er selbst eine kleine Handpuppe daraus und meinte zu mir, dass Theater echt toll ist und dass man viel mehr davon braucht. Auf die Frage warum, antwortete er: Weil das der Ort ist, wo Erwachsene ihre Fantasie nicht verlieren.
Generell war die FIDENA 2024 für uns ein voller Erfolg. Wir wurden nicht nur unterhalten, sondern ich habe mein Kind in dieser kurzen Zeit noch besser kennengelernt, aber – und das ist noch viel wichtiger – er sich selbst eben auch.
[1] Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom. Bundesministerium für Gesundheit. Stand: 1. August 2024. https://www.bundesgesundheitsministerium.de/themen/praevention/kindergesundheit/aufmerksamkeitsdefizitsyndrom.html (Zuletzt besucht: 05.09.2024)
[2] Neuy-Lobkowicz, Astrid & Tebartz van Elst, Ludger: ADHS und Autismus. ADHS Zentrum München. (Zuletzt besucht: 05.09.2024)