Theater

Das Helios Theater in Hamm: Pioniere der Weltbegegnung

Von Sarah Heppekausen

Das Treffen ist für nach der Vorstellung vereinbart. „Vorhang auf!“ hatte bereits im Oktober 2020 Premiere. Aber Barbara Kölling schaut sich ihre Inszenierungen immer mal wieder mit an, ist interessiert an den Reaktionen der Kinder. Sie sitzt weit oben auf der Treppe, am Rand, etwas abseits, aber mit guter Sicht auf das Geschehen. Später wird sie sagen, dass Kinder mehr zeigen als erwachsene Zuschauer*innen, weil sie ihre Eindrücke direkt präsentieren.

Im Helios Theater in Hamm werden junge Menschen nicht nur in den Blick genommen. Sie sind der Schlüssel zu einer Kunstform, die auf (Welt)Wahrnehmung fußt. Gut, könnte man jetzt sagen, das trifft wohl auf nahezu jede Theaterinszenierung zu, Weltwahrnehmung ist quasi Grundprinzip der Kunst. Aber Barbara Kölling und Michael Lurse, die künstlerischen Leiter*innen des Helios Theaters, nehmen dabei ihr meist junges Publikum, ihre Kunst und sich selbst ausgesprochen ernst.

Barbara Kölling - Foto von Judith Pawlitta, NRW KULTURsekretariat

Da ist zum Beispiel das Haus. Im Helios-Foyer gibt es Garderobenhaken auf drei unterschiedlichen Höhen, Stühle und Tische sind niedrig gebaut, auch die Theke ist auf verschiedenen Ebenen erreichbar. Kita-Kinder, Jugendliche und Erwachsene haben alle ihren Platz an diesem zentral gelegenen Ort, mitten in der Stadt, gleich neben den Gleisen. 2004 haben Kölling und Lurse ihr Theater im Kulturbahnhof eröffnet. Aus einem maroden Leerstand, der allenfalls als Fahrradgarage genutzt wurde, haben sie ein Kindertheaterhaus gestaltet. Die alte, spektakuläre Holzkonstruktion im Dach haben sie erhalten. Die öffnet den Bühnenraum verspielt-solide nach oben.

Gegründet wurde das Helios Theater 1989, damals noch in Köln. In einer Metropole vor allem der freien Theaterszene. „Wir waren als Tourneetheater unterwegs, Hamm war unser Gastspielort“, erinnert sich Barbara Kölling. Das Helios hatte keinen festen Ort, Hamm hatte kein professionelles Theater. Der damalige Theaterreferent der Stadt wollte das ändern. Und das Kölner Künstlerpaar hat das Angebot und die Herausforderung Kleinstadt angenommen. „Das sind auch ein bisschen wir“, sagt Kölling, „wir schrecken nicht zurück“. Das war 1997. Sie freuten sich auf die Möglichkeit, eine Theaterstruktur selbst aufzubauen.

Ihre erste Spielstätte war ein multifunktioneller Saal in der VHS, ein Raum, den sie sich mit anderen teilen mussten. Mit dem Umzug in den Kulturbahnhof schufen sie ihr eigenen Haus mit 150 bis 200 Plätzen und vielen Spielmöglichkeiten für modernes Theater. Auch mit dem Wissen, welche Vorteile die Kleinstadt hat. „So einen Leerstand am Bahnhof würdest du in Köln niemals finden“, meint Lurse. Und für Kinder und Jugendliche zu spielen, das sei überall sinnvoll, dafür müsse man nicht in der Großstadt sein.

Ihr künstlerischer Schwerpunkt, Theater zu spielen für Kinder und Jugendliche, hat sich mit der Zeit herausgebildet. Ihre künstlerische Herkunft ist das Figurentheater. Michael Lurse ist Puppenspieler, baut seine Puppen selbst. Seine Theater- und Lebenspartnerin attestiert ihm „eine Affinität zu den Dingen“ von jeher, auch im Alltag. Da müsse nur ein Glas auf dem Tisch stehen… Barbara Kölling lacht jetzt, meint diesen Satz im Kern aber genau so. Der Zugang zu Objekten, zu Material, zu Sand, Papier, Kreide oder Wasser ist ein anderer als der zu Sprache. Und eben das habe auch sie als Regisseurin am Figuren- und Puppentheater gereizt. Es stelle andere visuelle und damit andere gedankliche Möglichkeiten her. Wer von der Dingwelt ausgeht, habe andere und mehr Optionen zu begreifen.

Da ist sie wieder, die (Welt)Wahrnehmung. Wer mit Michael Lurse und Barbara Kölling über das (Figuren)Theater spricht, spricht immer auch über einen erweiterten Weltzugang.

Mit welcher Offenheit die beiden in und mit ihrem Theater der Welt begegnen, zeigt sich in mehrfacher Hinsicht. Das Helios Theater arbeitete schon immer spartenübergreifend, brachte Figurentheater, Schauspiel, Musik, Tanz und bildende Kunst bereits zusammen, als interdisziplinäres Arbeiten für die meisten Theater noch ein Fremdwort war. Schon 1990 spielten sie das Stück einer türkischen Autorin mit einer türkischen Schauspielerin. „Die interkulturelle Gesellschaft war von Anfang an unser Thema“, erklärt Lurse. Das Helios Theater ist der Entwicklung auf den Bühnen immer schon einen Schritt voraus. Aber gar nicht unangenehm prätentiös. Es ist vielmehr, als wäre ihre Vorreiterrolle die logische Konsequenz ihrer genauen Weltbetrachtung.

Ausschnitt aus der Produktion "Ha zwei Oohh" Foto von A.-S. Zimniak

So ist das auch mit dem Theater für die Allerkleinsten. Eine Schublade, in die sie allerdings ungern gerückt werden. Aber auch da waren sie die Ersten. Seit sie 2006 im Projekt „Theater von Anfang an“ mit Wissenschaftler*innen, Künstler*innen und Pädagog*innen gearbeitet haben, ist das Theater für Kinder ab zwei Jahren ein wichtiger Teil ihrer Arbeit. Alle zwei Jahre gibt es eine Produktion. Für Kölling und Lurse ergeben sich zentrale Fragen aus dieser Arbeit mit kleinen Kindern: Wer ist eigentlich der Zuschauer? Wenn die vierte Wand nicht für Kinder funktioniert, für wen dann? Bei „Kreise“ – einer sinnlichen Meditation mit Sand und schwingenden Steinen wie in einer Planetenumlaufbahn – stürmen am Ende die Kinder die Bühne und übernehmen das Spiel der Figuren. Die Zuschauenden als Mitspielende – nicht als Forderung, sondern als Einladung zur Aktivität.

Alle zwei Jahre lädt das Helios Theater internationale Produktionen zum Festival Hellwach ein. Gastspiele im Ausland sind genauso fester Bestandteil des Spielplans wie internationale Kooperationen, zum Beispiel bei „Vorhang auf!“ mit dem Katkatha Puppet Arts Trust aus Delhi. Dass Theaterarbeiten mit Material international verständlich, also interkulturell bestens teilbar sind, merken sie immer wieder. Beim Gastspiel von „Ha zwei Oohh“, einer theatralen Untersuchung des Wassers, seien die Kinder in Indien zum Becken gekommen und hätten erst mal einen Schluck getrunken. So sauberes Wasser in dieser Menge hat dort Seltenheitswert.

Kölling und Lurse sind in ihrer Theaterarbeit Forschende. Zu ihrer Recherchearbeit gehört immer auch die Frage, welche szenischen Mittel sich für welche Inszenierung begründen lassen. Ihr Ausgangspunkt war und ist dabei immer die Dingwelt. Die Sprache haben sie auf diesem Weg lange Zeit infrage gestellt, links liegen lassen, sie aber auch immer wieder zurückgeholt. Aus Lust sind sie zum Kinder- und Jugendtheater gekommen. Ihr Hang zur Reduktion verbindet sich eben hervorragend mit dem Theater für Kinder. „Was passiert mit dem Wenigen?“, fragt Barbara Kölling: „Es lässt die Imagination in Kraft treten.“