Jo Posenenske, Westflügel Leipzig: "Zimmer | Rooms"
28. Oktober 2024
Der Saal des Westflügel Leipzig ist dicht gefüllt an diesem ersten Abend der Expeditionen ins Junge Figurentheater. Über zwanzig Stücke von Studierenden aus Stuttgart, Berlin, Tschechien, Belgien, den Niederlanden, Frankreich, Polen und der Schweiz versammelt das diesjährige internationale Festival für Newcomer aus Figuren- und Objekttheater. Unter dem Titel „Pick an Inspiration“ zeigt das Figurentheaterzentrum Westflügel Leipzig vom 17. bis 26.10.2024 eine Fülle faszinierender und ungewöhnlicher Inszenierungen.
Eine dieser Arbeiten ist Jo Posenenskes Bachelorinszenierung „Zimmer | Rooms“. Als Grundlage, so informiert der dreisprachig vorgetragene Prolog, dient „Rooms“ der US-amerikanischen Schriftstellerin Gertrude Stein (1874–1946). Der 1914 erschienene Band „Tender Buttons“, der neben „Rooms“ noch zwei weitere Textteile enthält, gilt als eine Art Wendepunkt im Schaffen der Autorin, der den Übergang vom Schreiben über Menschen zur Ausrichtung auf Dinge und die alltäglich umgebenden Elemente markiert. Stilistisch wurden die Texte als experimentell zwischen Essay, Beschreibung, Lyrik und assoziativem Schreiben verortet, wobei „Rooms“ in seiner eigensinnigen Bedeutungsproduktion und schwer übertragbaren Sinnhaftigkeit als unübersetzbar gilt.
Spielweisend für Posenenskes „Übertragung des Textes in Bilder“ ist ein weißes Bühnenelement aus vier Wänden mit einer Fülle von Verstecken. – Act so that there is no use in the centre. – Befindet sich das Element zu Stückbeginn als eindimensionale Fläche auf dem Boden liegend, entfaltet die Spielperson im Stückverlauf hieraus unterschiedliche Räume, Zimmer und räumliche Anordnungen. – If the centre has the place then there is distribution. That is natural. – Die vielfältigen Raumkonstruktionen verblüffen allein durch ihre Machbarkeit – wer könnte glauben, dass das fragile Zweizimmerkonstrukt, über dem freien Eck gehalten von einer Schnur, um 90° gekippt werden kann, ohne dabei kaputt zu gehen? Wer hätte an jener Stelle eine Öffnung vermutet, die dann plötzlich als Fenster genutzt werden kann? Die technisch bis ins kleinste Detail durchdachte Konstruktion des von Fabian Schrörs gebauten Bühnenbildes dient als Grundlage für das präzise Spiel Jo Posenenskes, das mit der Raumerkundung ein symbiotisches Verhältnis eingeht. In einer Art dreiaktiger Dramaturgie entfalten sich zunächst verschiedene Räume, die dann über eine gewisse Zeit bespielt und schließlich aufgebrochen werden.
"Zimmer | Rooms": Jo Posenenske © Thilo Neubacher
Dabei gelingt es der Arbeit gerade durch ihre Reduziertheit, eine Fülle narrativer Stränge zu entfalten. Steht zu Beginn der Inszenierung das Interesse am Bühnenbild im Vordergrund, das ausgelotet, aufgeklappt und mit unterschiedlichen kleinen Objekten gefüllt wird, zeigt der zweite Teil das alltägliche Leben einer Person im streng durchfunktionalisierten Raum. – The author of all that is in there behind the door and that is entering in the morning. – Eine Tasse Kaffee, als Pappfigur vom Tisch geklappt, symbolisiert den Beginn des Tages. In wiederkehrenden Rhythmen wird das Radio an- und ausgeschaltet, Gymnastik betrieben, Selbstportraits geschossen und gearbeitet. Abends werden die karierten Hausschuhe abgestreift, choreografische Bewegungen skizzieren den Schlaf auf einer bestimmten Bodenfläche, Licht an, ein neuer Tag wirft sein Muster vorweg. Jede Bewegung und Handlung der Spielperson erscheint als Bebilderung der Umwelt, wobei der theatrale White Cube sukzessive mit kleinen Farbtupfern, einer Topfpflanze, Bilderrahmen und Dekoartikeln individualisiert und belebt wird. – The fact is that when the place was replaced all was left that was stored and all was retained that would not satisfy more than another. The question is this, is it possible to suggest more to replace that thing. This question and this perfect denial does make the time change all the time. –
In einem spannenden Kontrast zur Bewohnung des Zimmers steht das ständige Ausloten der Verhältnisse von Körper, Raum und damit einhergehenden Zuschreibungen. So fungiert die räumliche Anordnung zugleich als Maßgabe für Positionierung und Verhalten des menschlichen Körpers. Besonders deutlich wird dies, wenn sich die Spielperson an einen Tisch setzt, der vertikal in den Raum hineinragt, sodass das Sitzen relational betrachtet vollkommen korrekt erfolgt, tatsächlich aber als Rückenlage auf dem Boden mit angewinkelten Beinen durchgeführt werden muss. Später wird der Tisch korrekt aufgestellt, jedoch ohne Stuhl, sodass das Sitzen am Tisch nur durch die Aufwendung von Muskelkraft erfolgen kann. – All along the tendency to deplore the absence of more has not been authorised. It comes to mean that with burning there is that pleasant state of stupefication. Then there is a way of earning a living. Who is a man. – Der Frage nach Selbstverortung geht auch das Spiel mit einem Fellchen nach, das, wahlweise als Brusttoupet, als üppiges Achselhaar und schließlich als Backenbart positioniert, die Performativität geschlechtlicher Zuschreibungen vorführt.
"Zimmer | Rooms": Jo Posenenske © Thilo Neubacher
Ihren spezifischen Witz erhält die Inszenierung durch die präzise Spielweise und Haltung der:des Performer:in auf der Suche nach möglichen Selbstverortungen im Raum, aber auch im Verhältnis zu den umgebenden Gegenständen und damit einhergehenden Zuschreibungen. Fern jeder ironischen Distanz wirkt die Figur als Teil des geschaffenen Raums sehr nahe am Geschehen, ja zuweilen sogar als Bestandteil dieser kleinen Welt, deren überspitzte Details und penible Regeln in ihrer Präzision und Repetitivität seltsam berühren. Hinzu kommen Handlungen, die diesen Rahmen auf skurrile Art aufsprengen: das Verspeisen eines äußerst pappigen Blattes Esspapier, das feinsäuberlich aus der Papiertorte herausgetrennt wird, oder wenn hinter der letzten verbleibenden Wand durch das Einspielen von Wassersound eine Dusche entsteht – The time when there is not the question is only seen when there is a shower. Any little thing is water. – und die Spielperson in frischer Kleidung und mit nassem Haar einen Kaffee mit Handfilter aufbrüht, dessen Duft zu den Publikumsrängen zieht.
Mit den letzten, abermals verblüffenden Raumwandeln entfaltet sich die Verräumlichung alltäglicher Erfahrung zu Möglichkeitsräumen für Transformation und Veränderung. – Surprise, the only surprise has no occasion. It is an ingredient and the section the whole section is one season. – Kulminierend in einem gestenreichen Aufruf zur imaginativen Weiterarbeit verweist der Schlussakkord auf mögliche Grenzen des (bühnentechnisch) Machbaren, die unsere Vorstellungskraft jedoch zu übersteigen vermag. Die ausladenden Bewegungen Jo Posenenskes referieren auf die Möglichkeiten des Raumes. Sie zeigen in die Höhe des Saales, weiter nach oben, nach oben, was alles möglich wäre – …all this makes a magnificent asparagus, and also a fountain.
Die kursiv gesetzten Textteile stammen aus Gertrude Stein „Rooms“ (1914). Der gesamte Text ist online abrufbar.
Jo Posenenske, Westflügel Leipzig: „Zimmer | Rooms“
Ein alltäglicher Ausnahmezustand nach Gertrude Stein
Konzept, Stückentwicklung, Spiel Jo Posenenske | Stückentwicklung, Außenblick Franz Schrörs, Nóra Vermes | Bühnenbau Fabian Schrörs | Künstlerische Betreuung Antonia Baehr, Maya Weinberg | Supervision Stephanie Rinke
Premiere: 17. Oktober 2024
Dauer: 60 Minuten
Infos auf Jo Posenenskes Website
Programm von „Pick an Inspiration“ auf der Website vom Westflügel Leipzig