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„Über das Marionettentheater“ (Heinrich v. Kleist)

Die ästhetische Abhandlung in Form eines Berichts über den Diskurs eines fiktiven Erzählers mit einem Bühnentänzer veröffentlichte der Dramatiker und Publizist Heinrich v. Kleist (1777–1811) 1810 in den „Berliner Abendblättern“. Darin ist Kleist der romantischen Tradition von E. T. A. Hoffmann, J. Kerner, A. Mahlmann, J. Paul und L. Tieck verpflichtet, welche die Marionette als Gegenpart zum Schauspieler werteten und damit ihre tiefe Unzufriedenheit mit der Kunst des Darstellers aus Fleisch und Blut formulierten (nach Kerner "kommen die Marionetten viel ungezwungener, viel natürlicher vor als lebende Schauspieler"). Dieses Urteil war symptomatisch für die damalige Theatersituation und vor allem gegen den Berliner Stil A. W. Ifflands gerichtet.
Bei Kleist unterliegt die Marionette ganz den Gesetzen der Mechanik, vermeidet die Einseitigkeit menschlicher Individualität, fügt sich ganz den Wünschen des Spielers und ist somit der vollkommene Darsteller. Gegenüber dem Tänzer oder Schauspieler besitzt sie den Vorzug, "daß sie sich niemals zierte". Dadurch befindet sich ihre "Seele (vis motrix)" immer „in dem Schwerpunkt der Bewegung“, und der Puppenführer hat „keinen andern Punkt in seiner Gewalt [...] als diesen“. Alle Glieder sind das, „was sie sein sollen, tot, reine Pendel, und folgen dem bloßen Gesetz der Schwere“. Indem in der Marionette Seele und Bewegung der Glieder eins sind, gilt sie für Kleist als „Sinnbild idealer menschlicher Natur“ (R.-P. Janz). Wenn Kleist formuliert, der Schauspieler (Tänzer) „ziert“ sich, heißt das, er ist sich sowohl seiner eigenen Persönlichkeit als auch seines Körpers bewusst. Zum einen stellt Kleist hier die Frage nach der idealen Theatralität: diese könne nur durch die Puppe repräsentiert werden, da sie über kein außertheatralisches Leben verfügt. Zum anderen ging es Kleist philosophisch um die Bewahrung von „Anmut“ und „Grazie“. Anders als F. Schiller in seinem Aufsatz „Über Anmut und Würde“ (1793) sind diese Begriffe für ihn keine reinen Kategorien der Sittlichkeit mehr. Sie werden jetzt ästhetisch bestimmt als eine unbewusste, naturgemäße Qualität, die Kleist in die Marionette hineinprojiziert, da diese als Kunstfigur über kein reflektierendes Bewussstsein verfügt. Deshalb postuliert er, dass gerade „in einem mechanischen Gliedermann mehr Anmut enthalten sein könne, als in dem Bau des menschlichen Körpers“. Der Vergleich der ästhetischen Eigenschaften des lebenden mit dem hölzernen Darsteller wurde seit der Romantik immer wieder zur Bestimmung des Puppengenres herangezogen, erweitert und umgebogen; bis heute erfährt Kleists Marionettengleichnis auch philosophische, theologische, kunst- und gattungsgeschichtliche Ausdeutungen.

Manfred Nöbel

Literatur: Janz, Rolf-Peter: Die Marionette als Zeugin der Anklage. In: Hinderer, Walter (Hrsg.), Kleists Dramen. Neue Interpretationen, Stuttgart 1981. Jurkowski, Henryk : Geschichte des europäischen Puppentheaters (poln.), Bialystok 1986