Die aktuelle Kritik

Herrmannshoftheater Wümme: "Faust"

Von Katrin Ullmann
 

Der Faust-Stoff aus der Perspektive des Gretchens.

In der geräumigen Hofküche bollert ein Holzofen. Es gibt Tee aus dem Samowar, Soljanka und Torten. Langsam füllt sich der Raum mit Gästen, mit Freunden, Nachbarn und aus Hamburg Angereisten. Freundlich werden sie von Johann Karl König empfangen und begrüßt, nebenbei wird die Eintrittskasse gefüllt, das Gästebuch ausgelegt. Man kennt sich. Und kommt zusammen. Auf dem Land und fürs Theater. Heute Abend ist schließlich Premiere. Es gibt „Faust“ nach Johann Wolfgang von Goethe. Von der Küche gelangt man über einen kleinen Flur an der Garderobe vorbei ins eigentliche Hoftheater. Dieses ist ein großer Raum, ein ehemaliges Wohnzimmer vielleicht, der etwa 30 Besucher fasst. Dick gepolsterte Sessel, ein Kronleuchter und ein schwerer roter Vorhang machen daraus tatsächlich ein kleines Theater. Die Besucher mögen sich der Größe nach sortieren und setzen, bittet Johann Karl König die Zuschauer, und einer möge schließlich das Licht ausschalten. Dann setzt sich König ans Ton- und Lichtpult. Die Vorstellung kann beginnen.

Aus der Perspektive des Gretchen erzählen Antje König (Spiel) und Karl Huck (Regie) den „Faust“-Stoff. Von Alpträumen geplagt liegt König als Gretchen in einem großen Bett, wälzt sich und klagt, Stimmen aus dem Off und aus den Lautsprechern setzen dem Gretchen zu. Als es aufwacht, stimmt es traurig ein Lied von einer Ratte an. Einer Ratte, die vergiftet wird, verzweifelt um sich wütet und schließlich stirbt: „Da ward‘s so eng ihr in der Welt als hätte sie Lieb im Leibe.“ In Goethes Drama taucht der Text als lustiges Studentenlied in „Auerbachs Keller“ auf. König stellt ihn dem Stück voran – und erzählt damit bereits von Gretchens späterem Tod. Wenn Faust am Stückende Gretchen aus dem Kerker befreien will und scheitert, wird König den Text wieder sprechen. Der Blick des Gretchen, dann ist es eine mittelgroße Holzfigur aus der Werkstatt von Christian Werdin, geht hinter den Gitterstäben ins Leere.

Bis dahin spielt Antje König tatsächlich alles: Sie tritt als Mephisto auf und spielt kurz darauf seine Figur. Sie belebt die Figur des Faust, des Famulus Wagner, des Gretchens, der Marthe Schwerdtlein. In ruhigen, konzentrierten Wechseln, in einer klug gerafften Textfassung. Den dreieckigen Bühnenbau (Christian Werdin) dreht König in die jeweilige Position für die kommende Szene, klappt hier ein Fenster auf, holt dort ein Kästchen hervor, öffnet ein Triptychon: So entsteht mal ein Garten, mal eine gute Stube, mal das wilde Treiben der Walpurgisnacht (Bühnenmalerei: Anastasia Zukanova). In den Szenen bewegt König die Figuren nur wenig, gibt ihnen durch genau gesetzte Posen – der Figurenhals ist jeweils durch ein Kugelgelenk mit dem Torso verbunden – und Gesten ihren Ausdruck, und natürlich durch ihre Stimmwechsel. Unterschiedliche Atmosphären entstehen durch nur wenige theatrale Mittel: dort ein Gewitter, hier ein Lichtwechsel, ein Vogelruf und eine Berührung.

Vor allem, wenn sich die Figuren berühren, wenn etwa Faust, dessen Gesicht einen herrlich törichten und zugleich erlebnishungrigen Ausdruck hat, seinem gutgläubigen und rechtschaffenen Gretchen sanft, aber auch gierig durchs Haar fasst, oder Marthe Schwerdtlein viel zu dicht und heischend an Mephistopheles heranrückt, dann entstehen die besonderen Momente der Inszenierung. Dann zeigt sich in der Feinheit des Spiels ein Ausdruck, der die Figuren als eigene Wesen belebt. Dann entsteht durch den Nuancenreichtum von Antje König auf der Bühne ein psychologischer Naturalismus, durch den der Zuschauer mit den Figuren lebt und leidet und dabei vollkommen vergisst, dass er in Holzgesichter blickt. Karl Hucks „Faust“ lebt vom klugen Können der Spielerin Antje König, die Christian Werdins genau gearbeitete Figuren wie gleichberechtigte Partner ansieht – und sie doch einzig und allein selbst belebt.

 

Herrmannshoftheater Wümme: "Faust"

Regie & »Stimme Gottes«: Karl Huck

Spiel: Antje König

Figuren & Bühne: Christian Werdin

Kostüme: Katharina Schimmel

Bühnenmalerei & Plakat: Anastasia Zukanova

 

Premiere: 30. November 2019

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