Die aktuelle Kritik

Cie. Freaks und Fremde, Dresden: "Die Jüdin von Toledo"

Von Andreas Herrmann

Cie. Freaks und Fremde verdichten am Dresdner Societaetstheater Feuchtwangers spanische Ballade komplex und gedankenschwanger.

Eines kann man Heiki Ikkola nicht vorwerfen: Unterkomplexität im Denken wie Handeln. So bezieht sich seine Themenauswahl über die Jahre hinweg immer wieder auf aktuelle Weltprobleme. Auch das jüngste Werk – „Die Jüdin von Toledo“ nach Lion Feuchtwanger – lässt sich sehr gut an derzeitige Debatten anschließen, es passt aber auch in den klassischen literarischen Wertekanon, der seit Lessing immer wieder auf dem Theater verhandelt wird.

Mit übersprühendem Tatendrang infiziert Ikkola sein ganzes Umfeld. Dazu kommt die Lust an systemischer Schwarmintelligenz – er bezieht seine künstlerische Umgebung in die Prozesse ein – in erster Linie natürlich Sabine Köhler, mit der er nicht nur ein Berliner Ernst-Busch-Diplom gemein hat, sondern auch seit 2006 als Doppelspitze bei Cie. Freaks und Fremde agiert. Zuvor stand er der Puppensparte vom Dresdner Theater Junge Generation vor, mittlerweile sorgt er mit rund acht weiteren fix assoziierten Künstler*innen für Furore, vor allem im oberen Elbtal. Das Credo seit der ersten Produktion namens „Fremde. Von unvermeidlichen Kontakten und widerstreitenden Gefühlen“ ist die kritisch-konstruktive Auseinandersetzung mit dem „Anderen“, dem Unbekannten bis Unmöglichen – die Suche nach dem Konflikt, auch mit sich selbst. Das birgt die Gefahr der Überforderung von Publikum aller Art, ist aber besser als das Gegenteil.

Mit Berufung zum Leiter des Societaetstheaters Dresden im Vorjahr sind die Freaks eine von vier vertraglich fixierten Residenzcompagnien am Haus, wofür man die Stadt Dresden auch im Nachhinein nur beglückwünschen kann, auch wenn forsches Theater derzeit eher weniger in den Schlagzeilen steht – es sei denn, es gilt zu canceln. Doch so weit ist es an Dresdens Bühnen noch nicht. Hier geht es um die Suche nach Normalität mit Spiel vor geneigtem Publikum – und dazu gehören opulentes Theater in aufregender Unkonventionalität plus bürgerlicher Gedankenaustausch. Das ist, wenn man seit dem Start im Mai 2020 aufgrund der äußeren Umstände überhaupt ein Fazit wagen darf, bisher gelungen: Denn es wird gespielt, so viel wie und so oft es geht.

Versteckter Erfolgsroman

Dies ist nicht unwichtig zu wissen, denn das Haus liegt einerseits im Dresdner Barockviertel im Umfeld von Edelläden, -mietern und -restaurants sowie Kunstgalerien und ist – wie dessen Chef gern hervorhebt – „das bestens versteckte Theater der Stadt“. Andererseits ist es ein reines Gastspielhaus mit drei verschiedenen Bühnen, eigentlich recht frisch und hübsch saniert, aber dennoch dank Bausünden schon bald wieder ein aufwendiger Sanierungsfall.  

Nun also seitens der Freaks wieder ein Gemeinschaftswerk: Alle fünf Spieler*innen beherrschen Schauspiel, besitzen markante Stimmen, vier wagen sich an Marionetten und drei beherrschen das qua Ausbildung ganz vorzüglich. Neben diesem Mix werden wie gewohnt alle Sinne strapaziert – Lichtregie, Video- und Musikeinsatz, teils auch choreographische Eleganz sind wie üblich im Einklang mit ungewohnten Theatermitteln: hier der Einsatz von großen Schulkarten, einer Art manueller Drehbühne und einem Röhrenradio plus Schreibstubenutensilien aus der Zeit der Romanentstehung vor zwei Generationen.

Dazu singt Sabine Köhler solo vorzüglich wie schleppend eine Neuversion von Britney Spears‘ „Toxic“. Alle gemeinsam trällern zu Rammstein, während der Dresdner Musiker und Komponist Frieder Zimmermann hinten neben dem Technikpult live seine eigenen Arrangements per Gitarre einspielt. Bei den Endproben oblag dem Dramaturgen Jörg Lehmann dann die Draufsicht, der die Ausuferungen ein wenig kanalisierte und die Stromschnellen besänftigte – sodass er unter „Mitarbeit Regie“ geführt wird.

Doch auch so wird ein gewaltiger Kosmos präsentiert: die heutige Sicht auf Feuchtwangers Roman plus der Niedergang der arabischen Kultur und des jüdischen Einflusses vor fast eintausend Jahren auf der Iberischen Halbinsel, also in Zeiten der großen wie blutigen Kreuzzüge und Glaubenskriege binär denkender Monotheisten. Der Spiegel-Gründer, Sowjetfreund, Anti-Marxist, Stalin-Bewunderer und Brecht-Förderer Feuchtwanger war schon zu Zeiten der Bücherverbrennung als bekennender Kosmopolit einer der Hauptfeinde der deutschen Nazis, aber auch stets irgendwie im Clinch mit dem Literaten-Mainstream – selbst im Widerstand. Sein hier zugrunde liegender vorletzter Roman erschien 1955 mit Originaltitel im Ostberliner Aufbau-Verlag, erst danach bei Rowohlt in Hamburg – dort als „Spanische Ballade“.

Hier dient ein jüdischer Kaufmann erst dem Emir südlich des Tajo in Sevilla, dann – um zu seinen Wurzeln samt Glauben zurückkehren zu können – dem spanischen König Alfonso, dem achten. So kann der unfreiwillig zum Muslim bekehrte Ibrahim wieder zu Jehuda Ibn Esra werden – und auch seine schöne Tochter wird wieder zu Raquel. Seine Mitgift: Acht Jahre Friedenspflicht zwischen Kastilianern und den fortschrittlichen Mauren für den wilden Spanier, dafür importierte er mit deren Bildungs- und Handwerksfortschritten quasi Erfolgsrezepte und mehrte so den Reichtum. Als der trostlos englisch-verheiratete König jedoch erotisches Verlangen für dessen Tochter entwickelt, wird es gefährlich …

Die Marionetten dazu baute Christian Werdin – neben den drei Hauptfiguren auch noch den königlichen Beichtvater Don Rodrigo und den weisen Onkel Musa, bewandert in allen Büchern, beide für die religiöse Ebene. Und einen etwas kleineren Lion Feuchtwanger, der als Autor auf dem Weltempfänger sitzend mit seinen Figuren hadert oder seiner nur in Form von Kathleen Gaube höchst selbst (also auf Menschenebene) vorhandenen Assistentin Hilde Waldo Gedanken diktiert oder mit ihr kuscheln will. Sabine Köhler, Dirk Neumann, der mit Hoppes Hoftheater in Dresden-Weißig ein feines eigenes Theater leitet, aber gelernter Puppenspieler ist, und Heiki Ikkola tragen als versonnene Tochter, schlauer Vater und ritterlicher König die Hauptrollen beim Marionettenspiel, Ariella Hirshfeld ist die leibhaftige Entsprechung der schönen Raquel – und wagt ein fatal erotisches Königstänzchen auf der Klippe des Vulkans.

Die natürlich tragisch endende Liebesgeschichte, an der sich trotz dem innewohnenden Dreiklang der Weisheiten von Morgen- bis Abendland und deren Reibung dank Fremdheit bislang erstaunlich wenige Theaterleute wagten, wird als Hauptstrang episodisch linear erzählt, aber stets um überraschende Interventionen angereichert, sodass ein abendfüllendes Freakskompendium entsteht, für dessen körperliche Dynamik die große Bühne im Haus eigentlich zu klein erscheint, aber die Feinheit der Puppen größere Bühnen ohne Opernglas nicht hergeben.

Mit ein wenig Straffung der rund zwei Stunden dauernden pausenlosen Performance wäre es ein wunderbarer Schulstoff für Deutsch- und Ethiklehrer*innen in einer Stadt, in der just weniger Gottgläubige als Ungeimpfte leben. Höhepunkt interpretativer Romanexegese neben den moralischen Grundfragen: Darf man mit den beiden Alphamännchen als Luftgitarre zur Rammstein-Melodie Feuchtwanger-Poeme singen? Und wer rettete uns die Kenntnis von platonischer Liebe?   

Genau.

 

„Die Jüdin von Toledo“ nach dem Roman von Lion Feuchtwanger

Cie. Freaks und Fremde (Dresden) nach Lion Feuchtwanger

Künstlerisches Team und Darsteller*innen: Kathleen Gaube, Ariella Hirshfeld, Sabine Köhler, Dirk Neumann, Heiki Ikkola

Puppenbau: Christian Werdin

Musik: Frieder Zimmermann

Video, Schnitt, Mapping: Beate Oxenfart

Technische Leitung & Licht: Josia Werth

Mitarbeit Regie, Dramaturgie: Jörg Lehmann

Bühnenbau: Peter Tirpitz

 

Nächste Vorstellungen: 12. & 13. November 2021 (je 20 Uhr)

Netzinfos: www.societaetstheater.de/veranstaltung/die-juedin-von-toledo/

Fotos: André Wirsig

3 Kommentare
Peter Waschinsky
16.11.2021
Lieber Heiko, ich denke, ich habe sehr deutlich mein Interesse am Stück ausgedrückt - wie ich mir ja auch sonst viel Puppenspiel angucke - und nichts bewertet, was ich nicht kenne, habe mich aber zur Situation mit Marionetten informativ geäußert.
Daß bei Euch verschiedene Sparten am Werk waren, war aus der Rezension nicht zu ersehen, daher der Opern-Gesangs-Vergleich.

Jedenfalls gut, wenn sich hier überhaupt mal der Ansatz zu einer Diskussion ergibt - das ansonsten große Schweigen sagt wohl genug über die Situation (einschl. wie es u.U. aussieht, wenn sich dann doch mal jemand äußert, wie kürzlich eine Studentin zu mir: https://generalanzeiger-waschinsky.de/index.php/blumen-und-tomaten/499-jugend-voran)
Heiki Ikkola
13.11.2021

Kommentar Peter Waschinsky

Mensch, Peter. Warum versuchst du über Sachen zu schreiben, die du gar nicht gesehen hast? Lustig ist, dass du schreibst: "Nach Andreas Hermanns vor allem Hintergrund-informierendem Text auch von mir noch etwas Info." - Und dann kommen natürlich keine Infos, sondern nur Mutmaßungen. Komm doch einfach gucken und dann ziehe es von uns aus halt durch den Kakao. Und übrigens war hier kein "Maitre" am Werk. Das Inszenierungskollektiv hat sich bewußt für eine kollektive Erarbeitung entschieden, und das damit verbundene Risiko, hier einen vielschichtigen, multiperspektivischen und eben auch disparaten Abend zu schaffen. Am Ende haben wir einen uns eng verbundenen Kollegen gebeten, unsere Arbeit ein wenig zu ordnen, die verschiedenen Perspektiven und Lesarten zu vermitteln. Ja, und ganz bewußt haben hier drei Puppenspieler/innen und zwei Schauspielerinnen, ein Lichtkünstler, eine Bildkünstlerin und ein Musiker zusammengearbeitet, mit Bewußtheit ihre Künste einbringend. Und da gibt es dann eben auch den Moment, in dem eine Schauspielerin, die nicht vorgibt, eine Puppenspielerin zu sein, eine Puppe aus ihrer Perspektive zu betrachten, zu behandeln ... Dein Vergleich mit dem 3/4-gesangsfähigem Opernensemble hinkt hier, ... Wie gesagt, komm doch einfach vorbei und dann kannst du gern kritisieren und uns erzählen, was ihr in den 70ern in Neubrandenburg besser gemacht habt. - Ansonsten hoffe ich, Dir gehts gut.
Peter Waschinsky
05.11.2021

Jüdin von Toledo

Nach Andreas Hermanns vor allem Hintergrund-informierendem Text auch von mir noch etwas Info.
Auf jeden Fall bin ich jetzt neugierig und würde den Abend gerne an der Berliner Schaubude sehen - wo beim Theater-der-Dinge-Festival derzeit grade wieder vor allem Performance und Installation beglücken.

Daß im Text nur andeutende Kritik vorherrscht (verständlich im sonst eher einhelligen Lobgesang über deutsches Puppenspiel bzw. dessen Vermeidung) läßt erahnen, daß Maitre Ikkola, evtl. mit "Ich-ola" zu übersetzen, sein vielfältiges, vielgedankliches, viel-ebenen-iges Projekt eigentlich selbst inszenieren wollte, was nicht so ganz aufging, vielleicht, weil ganz schlicht auch selbst darin spielend. An den beschriebenen vergleichsweise reichen Bedingungen, sprich am Geld, kann das Fehlen eines wirklichen Regisseurs ja wohl nicht gelegen haben, oder?

Neben Schauspiel, Gesang, Video, Ballett... äh nein, kein Ballett, gab es also auch Marionetten. Jener Technik, zu der Dresden ein irgendwie verklemmtes Verhältnis hat. Weil eigene Tradition? Eben! Davon muß man sich lösen, vor allem immer dann, wenn was wirklich Neues kaum da ist.
Jedenfalls: Nach Problemen mit dieser Figurenart bei Ernst-Busch-Puppe, wo gerade im 50. Ausbildungsjahr beim letzten Kurs fast alle Marionetten-Dozenten Anfänger waren, stimmt erfreulich, daß wieder Marionette gespielt wird und drei der vier Spieler die Technik auch drauf haben, (allerdings stelle man sich vor, an der Oper würden nur 3/4 des Ensembles Gesangsfähigkeit bescheinigt).

Neben und nach Mischformen mal Konzentration auf e i n e Puppenform wäre ja durchaus eine Möglichkeit für die Zukunft. Das mißversteht das Publikum als Verstaubtheit?
Nee, wer das mißversteht, ist eher die „Szene“. Das durchaus auf Neues orientierte Publikum verstand sehr wohl. Damals in den 70er Jahren in Neubrandenburg.

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