Die aktuelle Kritik

Socalled & Friends/Kampnagel Hamburg: „Time – The 4th Season“

Von Falk Schreiber

Ein Bär tappst durch aktuelle gesellschaftspolitische Diskurse: Der kanadische Musiker und Figurentheatermacher Josh „Socallled“ Dolgin bringt mit der Uraufführung „Time“ beim Internationalen Sommerfestival Hamburg seine Puppenmusicalserie „The Season“ zu einem würdigen Abschluss.

Der Bär liegt im Krankenhaus. Hochgradige Amnesie, keine Ahnung, wo er herkommt. Was ein Problem ist: Ohne zu wissen, wohin, kann ihn die Klinik nicht entlassen, aber im Krankenzimmer darf das Tier auch nicht bleiben, also soll es an den Zoo verkauft werden. Der Bär muss sich also an seine Herkunft erinnern – nur wie? Ein Wettlauf gegen die Zeit und das eigene Unterbewusstsein beginnt …

Der kanadische Musiker und Puppentheatermacher Josh „Socalled“ Dolgin hat während der vergangenen zehn Jahre eine Reihe von Puppenmusicals beim Internationalen Sommerfestival im Hamburger Kulturzentrum Kampnagel entwickelt: kindgerechte, mitreißende Geschichten, in denen ein Bär und seine Freundin, das Alien Tina, Abenteuer erleben, die bei Licht betrachtet gar nicht unbedingt kindgerecht sind, sondern aktuelle gesellschaftspolitische Diskurse widerspiegeln. Der Bär also tappst durch Umweltzerstörung, Kapitalismus, Gentrifizierung, und in der aktuellen, finalen Episode „Time“ setzt er sich mit Identitätspolitik auseinander: Es geht darum, wo man herkommt, wo man sich zugehörig fühlt, in welche Traditionen man sich stellt.

„Time – The 4th Season“ © Maximilian Probst

In welcher Tradition Socalled steht, ist dabei recht schnell offensichtlich: in derjenigen des typisch amerikanischen Puppensingspiels, mit lautstark krächzenden Figuren, deren gewollte Misstöne darüber hinwegtäuschen, dass es hier auch um eine ganz ernstgemeinte Liebe zur Musik geht, im Falle von „Time“ unter anderem zu HipHop, Swing, Pop, Balkanbeat und schwelgerischem Orchesterschmalz (für den sich das renommierte Kaiser Quartett verantwortlich zeichnet). An dieser Detailverliebtheit spürt man, dass der Urheber des Abends in erster Linie Musiker ist, der nicht zuletzt durch die Verbindung von jüdischer Liedtradition und Rap bekannt wurde. Auch hier: das Suchen nach der eigenen Herkunft, das Fixieren von Vergangenheit.

Das Puppentheater wird in „Time“ nicht neu erfunden, doch in der praktischen Umsetzung erweist es sich als handwerklich versiert und ungemein sympathisch. Im Grunde hat Eliane Fayad wenig spektakuläre Klappmaulpuppen gebaut, die vielleicht ein wenig gröber wirken als die perfekt ausgearbeiteten Gestalten aus dem ästhetisch verwandten Muppet-Kosmos: Figuren, die an Kuscheltiere erinnern, die viele Jahre geliebt und ein paarmal zu oft gewaschen wurden. Allerdings spielen Jeremie Desbiens, Gabrielle Garant, Marcelle Hudon und André Anne Leblanc diese Figuren gekonnt: Der Bär etwa sitzt die meiste Zeit im Rollstuhl, aber wie er bedient wird, wie sich Körper und Maul bewegen, versteht man erst nach einiger Zeit, und dieser Moment des Verstehens ist ein kleiner Glücksflash. Auch die Nebenfiguren, ein hektischer Hase oder ein miesgelaunter Biber, sind aller Konvention zum Trotz mit Seele gefüllte Objekte, und in Tina, im Grunde nur ein rotes Fellknäuel mit Zähnen, muss man sich gerade wegen ihrer Hässlichkeit sofort verlieben.

„Time – The 4th Season“ © Maximilian Probst

Nur geht es Socalled nicht wirklich um einen Umgang mit avancierter Puppenspielästhetik, es geht ihm um das Zusammenspiel aus Musik, Puppe und Performance. „Time“ würde wie die gesamte „The Season“-Serie nicht funktionieren, wenn man sich auf einzelne Aspekte konzentrieren würde, der Abend ist ein Gesamtkunstwerk, der zusammengehalten wird von einer stimmigen Handlung, die durch ihre erzählerische Reduziertheit und beeindruckende Diskurshöhe besticht. Vielleicht ist der Abend dabei an manchen Stellen zu viel, vielleicht hätte es nicht unbedingt ausgefeilte choreografische Elemente (Hanako Hoshimi-Caines) gebraucht, vielleicht wäre es nicht nötig gewesen, Publikumsbeteiligung einzubauen (der Neurologe Dr. Fluralurp wird von einem freiwilligen Zuschauer gespielt), andererseits – warum eigentlich nicht? Es funktioniert ja alles.

Bei den vorherigen „The Season“-Folgen waren Stargäste Teil der Aufführungen, der Jazzposaunist Fred Wesley etwa oder die klassisch-indische Sängerin Kiran Ahluwaliah. In „Time“ hätte die japanische Chindong- und Koto-Spielerin Miwazow teilnehmen sollen, diese erkrankte allerdings während der Proben. Und es zeugt von der künstlerischen Qualität des Abends, wie Socalled es schaffte, kurz vor der Premiere das Konzept umzustellen, damit Miwazows Fehlen nicht auffällt – zumal der Kanadier bis vor wenigen Tagen selbst in Quarantäne war und nur per Videocall die Proben leiten konnte. Einzig eine Titeländerung verweist auf das Fehlen des Stars: Statt „Time – The 4th Season feat. Miwazow“ heißt es jetzt Time – The 4th Season not yet featuring Miwazow“. Was erträglich ist. Unerträglich allerdings ist: dass diese lebenskluge, detailverliebte, schräge Puppentheaterserie hier an ihr Ende gekommen ist. Man sollte aufhören, wenn es am schönsten ist, aber ein, zwei Folgen hätte der Stoff durchaus noch hergegeben.

 

Time – The 4th Season

Von Socalled & Friends

Komposition, Text, Design, Regie: Josh „Socalled“ Dolgin, Ko-Autor, Text: Joe Cobden, Performance, Gesang: Joe Cobden, Michael Felber, Rich Ly, Katie Moore, Simon16, Live Musik: Patrice Agbokou (Bass), Josh „Socalled“ Dolgin (Piano), Natalia Girunyan (Harfe), Kaiser Quartett (Streicher), Matthew Woodley (Drums), Tanz, Choreografie: Hanako Hoshimi-Caines, Puppenspiel: Jeremie Desbiens, Gabrielle Garant, Marcelle Hudon, André Anne Leblanc, Overtüre: Fred Wesley, Bühne: Eric Grice, Marian Regdosz & Team Kampnagel (Bühnenbau), Kostüme: Erin Fortier, Sound: Juliette Wion, Projektion: Michael Dubue, Puppen: Eliane Fayad, Produktionsleitung: Danagement, Montreal & Team Kampnagel

Fotos: Maximilian Probst

 

https://www.socalledmusic.com

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