Young Writers

LOCO – Grenzen zwischen Vernunft und Wahnsinn

Von Melina Durgut

Wer ist Poprischtschin wirklich? Ein normaler Beamter? Oder doch der verlorene König von Spanien? Die Puppenspielerinnen Marta Pereira und Tita Iacobelli zeigen eine beeindruckende Aufführung.

Der enge, dunkle Gang, der zum Saal des Theaterreviers führt, gibt schon eine Vorahnung auf das Stück. Eine leicht düstere und gruselige Atmosphäre liegt in der Luft. Nur ein Bett ist auf der Bühne zu sehen. Es herrscht gespannte Stille im Saal, während düstere Musik im Hintergrund läuft.

Geheimnisvoll beginnt die Aufführung mit einem flüsternden Ton, ohne dass klar ist, wer hinter den Geräuschen steckt. Die Lichter richten sich auf die Bühne, und die lebensgroße Puppe Poprischtschin erscheint vor unseren Augen auf dem Bett. Poprischtschin wird von zwei Frauen gesteuert (Marta Pereira und Tita Iacobelli), die auch für das Flüstern verantwortlich sind. Poprischtschin schaut tief ins Publikum, während er seinen Monolog beginnt. Er bezieht das Publikum mit in das Stück ein, damit eine intensivere Bindung zwischen Poprischtschin und Zuschauer*innen aufgebaut wird. In diesem Monolog stellt er fest, dass er ein ganz normaler Kopierer ist und für seinen Vorgesetzten, den Bürgermeister, arbeitet. Außerdem redet er über die zwei Hunde Bijou und Medji, während er für die Beschreibung der Hunde die Haare der beiden Frauen als Fell benutzt. Poprischtschin behauptet, dass sich die beiden Hunde gegenseitig Briefe schreiben. Hier beginnt der leichte Wahnsinn von Poprischtschin. Diese absurde Vorstellung fasziniert ihn, und er beginnt, ihre Briefe zu lesen und zu analysieren. Immer tiefer lässt er sich in seine Fantasiewelt ziehen und verliert zunehmend den Bezug zur Realität. Mit dem Satz „I hear and see things that no one has seen or heard“ ist er fest davon überzeugt, Bijou und Medji zu verstehen. Solche mysteriösen, fast traumhaften Elemente können das Publikum verunsichern und eine unterschwellige Spannung erzeugen, da die Realität der Szene plötzlich nicht mehr greifbar ist.

Eine kurze Stille folgt, und Poprischtschin legt sich auf sein Bett. Die Musik wird deutlich lauter, und sein Traum beginnt. Er halluziniert einen Fisch, der hinter dem Bett auftaucht, Poprischtschin etwas zuflüstert und dann davonschwimmt. Das Flüstern taucht wieder auf, und das Bett beginnt sich zu drehen. Die Szene erzeugt eine unheimliche Stimmung, die sowohl faszinierend als auch verstörend wirkt. Ebenso erkennt das Publikum, dass Poprischtschins zunehmender Wahnsinn eine Distanz zwischen der wahren Realität und Poprischtschins Wahrnehmung schafft.

Inzwischen vergeht die Zeit, und Poprischtschin arbeitet weiterhin im Büro des Bürgermeisters. Genervt imitiert er ihn: „What’s the weather like?“, weil ihm diese Frage jedes Mal von dem Bürgermeister gestellt wird. Hier kann man die Gefühle von Poprischtschin mitfühlen, da die Zuschauer*innen solche ähnlichen Erfahrungen, mit ihren Vorgesetzten, wahrscheinlich auch erlebt haben. Poprischtschin erzählt weiter: Nach einiger Zeit tritt Sophie, die Tochter des Bürgermeisters, ins Büro ihres Vaters. Poprischtschin erstarrt, obwohl er so vieles zu sagen oder zu gestehen hätte. Seine Anziehung zu Sophie ist deutlich spürbar, als er wiederholt „Touch. Don’t Touch!“ ruft. Er kann kaum die Hände von ihr lassen, zögert jedoch gleichzeitig, sie zu berühren. Diese Wiederholungen von „Touch. Don’t Touch!“ zeigen seine innere Unsicherheit und die Ambivalenz seiner Gefühle. Es ist offensichtlich, dass diese Anziehung intensiv ist und er mit seinen Emotionen ringt. Der Mangel an Gegenseitigkeit kann zu einem Gefühl der Einsamkeit führen, welches ebenfalls zu seinem Wahnsinn beiträgt. Man empfindet ein gewisses Mitleid mit Poprischtschins Verhalten, da einseitige Liebe ein schmerzhaftes Thema ist.

Dann legen sich Iacobelli und Pereira mit der Puppe mit dem Rücken auf das Bett, ihre Beine nach oben gestellt, und bewegen sie hin und her, was den Kontrollverlust über Poprischtschins eigenen Körper verdeutlicht. Die düstere, bedrohliche Melodie, die aus den Lautsprechern hallt, und die hohe, mysteriöse Stimme, der Darstellerinnen, verstärken das Gefühl von Unbehagen und wirken verstörend für die Zuschauer*innen. Das Licht breitet sich über das ganze Bett aus, und Sätze seines Vorgesetzten wie „Look at yourself“ oder „What are we going to do with you?“ lassen Poprischtschin klein erscheinen. Sein Kopf liegt im Koffer, dessen Inhalt auf seinem Oberkörper verteilt ist. Es war für mich etwas verwirrend, aber es zeigte mir den inneren Konflikt, mit dem er zu kämpfen hat. Scham überwältigt Poprischtschin, und seine Gefühle treiben ihn dazu, sich zu rechtfertigen, indem er argumentiert, dass er zur Schule ging und aus einer guten Familie stammt. Zweifelnd nähert er sich dem Publikum, um zu sagen, dass er das Theater liebt – ein Zeichen leichten Wohlstands.

Der Wahnsinn nimmt zu, als die Bettdecke beginnt, mit Poprischtschin zu sprechen und ihn aufzumuntern. Die fiebrige Neugier, die Poprischtschin über Sophie verspürt, wird von der Bettdecke unterstützt, bevor sie wieder verschwindet. Als Lösung für das Problem will er die Briefe der Hunde Bijou und Medji in die Hände bekommen. Medji, der Hund von Sophie, gesteht in diesem Brief, dass ein fremder Mann an Sophies Tür klopfte, der sich als Diplomat entpuppte. Medji berichtet weiter von einem Kopierer aus dem Rathaus, über den sich Sophie jedes Mal lustig macht, wenn sie ihn sieht. Poprischtschin reagiert bedrückt auf diesen Text, da seine einzige Liebe seine Gefühle nicht erwidert und ihn stattdessen auslacht. Der Diplomat scheint oft bei Sophie vorbeizukommen, was auf Verliebtheit hindeutet, und bald verbreiten sich die Nachrichten, dass Sophie und der Diplomat heiraten wollen. Durch diese unerwiderte Liebe kann das Publikum sein inneres Leiden nachvollziehen und Mitgefühl für seine Situation entwickeln.

Als Poprischtschin den Brief zu Ende gelesen hat, hinterfragt er seine Arbeit und würde gerne wissen, warum er ein Kopierer geworden ist. Auch seine Identität zu hinterfragen, führt zu überwältigendem Selbstzweifel. Poprischtschin verliert die Hoffnung in sich selbst, indem er alles in seinem Leben in Frage stellt, weil er lieber einen höheren Status hätte, um von Sophie endlich respektiert zu werden. Wiederholt zählt er seinen Familienstand und seine Schulbildung auf, um zu zeigen, dass er doch einen wohlhabenderen Stand verdient habe.

Zeitungsartikel bedecken mehr als die Hälfte seines Bettes, und nach mehreren Recherchen fällt Poprischtschin auf, dass nach einem verlorenen König von Spanien gesucht wird. Ein rotes Licht fällt auf Poprischtschin, als er „Spain has a king“ ins Publikum hinausschreit. Die Aufmerksamkeit wird dadurch komplett auf Poprischtschin gezogen. Hier erreicht er die komplette Grenze des Wahnsinns und verliert vollständig den Verstand. Völlig überzeugt glaubt Poprischtschin, der verlorene König von Spanien zu sein, Ferdinand VIII.. Er bastelt sich eine Krone und Kleidung aus den Zeitungen, um den vollen Effekt eines Königs zu erleben. Stolz verkündet er dem Publikum, dass der König von Spanien zurückgekehrt sei.

Plötzlich wird Poprischtschin von Iacobelli und Pereira leise auf das Bett gelegt. Angeblich ist Poprischtschin in Spanien angekommen und prophezeit, dass die Erde am nächsten Tag um 13:30 Uhr auf dem Mond landen wird. Er stiftet Panik und Unruhe um sich herum, indem er Zettel überall auf der Bühne durcheinanderwirft. Dadurch können Zuschauer*innen Mitgefühl für seine verzweifelte Lage entwickeln. Sie entwickeln, durch den Zusammenbruch von Poprischtschin, selbst eine innere Unruhe und Anspannung.

Den endgültigen Bezug zur Realität verliert Poprischtschin, als in seinen Gedanken der „Mond“ auf ihn zurollt. Hier gehen alle logischen und rationalen Bezüge verloren. Man fragt sich, was als nächstes passieren wird, und es entsteht ein intensiver Moment der Unsicherheit. Der enorm große „Mond“ ist ebenfalls aus mehreren Zeitungen gebastelt worden. Laute Musik ertönt, und als Poprischtschin „Nein!“ mit voller Lautstärke schreit, hört der Ball vor dem Bett auf, sich zu bewegen. Poprischtschin besitzt die komplette Kontrolle über den Mond, was fasziniert. Merkwürdige Fakten zählt er auf, wie zum Beispiel: „Do you know that the moon is made in Hamburg?“. Diese Wahnvorstellungen nehmen kein Ende, als er den „Mond“ hin- und herspringen lässt und ihn schließlich nach oben schweben lässt. Am Ende wird er ins Bett gelegt, und die Aufführung endet mit dieser Szene.

Ein großer Applaus gebührt Tita Iacobelli und Marta Pereira, die zu zweit eine perfekte Kontrolle über die lebensgroße Puppe Poprischtschin hatten. Beide bewegten die Puppe gleichzeitig, wobei jeweils eine Seite der Arme und Beine gesteuert wurde. Auch einzeln wurde die Puppe kontrolliert, während die andere Darstellerin für kurze Zeit den „Mond“ übernahm. Die Darstellung der Gefühle und der Psyche von Poprischtschin wurde hervorragend inszeniert und hinterlässt eine langanhaltende Erinnerung an ein überragendes Stück. Nicht nur der Puppenbau von Poprischtschin, gestaltet von Loïc Nebreda, trug raffiniert zur Atmosphäre bei, sondern auch die Gestaltung der Bühne Die düstere Musik, das Flüstern, die Kostüme und die Handlung  verstärkten die unheimliche Atmosphäre und ließen die Grenze zwischen Realität und Wahn verschwimmen... Die Altersbegrenzung ab 14 Jahren ist gerechtfertigt, da das Stück verschiedene schwere, tiefgründige und nachdenkliche Themen behandelt, die für jüngere Jugendliche zu kompliziert sein könnten.

Bevor ich die Aufführung gesehen hatte, war ich skeptisch und hatte wenig positive Erwartungen, da ich befürchtete, den Inhalt nicht vollständig zu verstehen. Insbesondere, da das Stück nicht auf Deutsch ist. Zudem zweifelte ich daran, ob eine Puppe in der Lage wäre, so viele Emotionen glaubhaft zu vermitteln. Während der Aufführung jedoch erlebte ich eine überzeugende Mischung aus Spannung, Freude, Mitgefühl, Angst und Verwirrung. Im Nachhinein bin ich der Überzeugung, dass jeder diese Inszenierung mindestens einmal gesehen haben sollte.

Man empfindet Empathie für Poprischtschin, der verschiedene Situationen erlebt, die auch in unserem echten Leben passieren können, wie zum Beispiel die Ablehnung oder Missachtung durch die Tochter seines Vorgesetzten Sophie oder die Demütigung durch seine Kollegen im Rathaus. Poprischtschin versucht, seinem elenden Alltag zu entfliehen, indem er sich immer weiter in den Wahn hineinversetzt und glaubt, der verlorene König von Spanien zu sein. Dieser Gedanke ist sein Entkommen aus der Realität, die ihn viel glücklicher machen würde, da er sich als erfolgreicher und überlegen darstellt.

Das französische Stück wurde für das Publikum ins Englische übersetzt. Diese Übersetzung wurde auf einem Bildschirm über der Bühne als Übertitel gezeigt. Somit konnten die Zuschauer*innen die Handlung verfolgen und mitfühlen. Die Übertitel sorgen dafür, dass das Stück international verbreitet und aufgeführt werden kann. Allerdings verfügt nicht jeder über ausreichende Englischkenntnisse, sodass sich einige eher auf die Übertitel konzentrieren könnten als auf die Bühne. Diese Barriere könnte dazu führen, dass nicht alles verstanden oder gefühlt werden kann. Zuschauer*innen könnten auch mehrmals zwischen den Übertiteln und dem Stück hin- und herspringen, sodass sie wichtige Szenen verpassen oder nicht verstehen und dadurch nicht die ganze Aufführung verfolgen können.

Dennoch zeigten die Darstellerinnen eine unglaublich gelungene Aufführung, die die Zuschauer*innen zum Nachdenken anregte und Themen aufgriff, die sie auch im Alltag emotional erleben könnten.

 

Foto: Théatre National Wallonie-Bruxelles

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