TOF-Théâtre: Summer '69
Mit gespannter Erwartung füllte sich das Dampfgebläsehaus in der Jahrhunderthalle Bochum kurz vor Beginn der Aufführung Summer '69. Obwohl die Atmosphäre vielversprechend war, stellte sich schnell heraus, dass die Sitzplätze im hinteren Bereich für die Zuschauer ungünstig waren. Der geschlossene Raum war eng und alle Sitze befanden sich auf derselben Ebene, was es den Zuschauern im hinteren Bereich schwer machte, die Bühne zu sehen. Anfangs war es für viele unmöglich, die Ereignisse auf der Bühne zu verfolgen. Doch diese Einschränkung wurde bald behoben, als sich ein zentraler Bildschirm innerhalb des Bühnenbildes einschaltete und so jedem*r Zuschauer*in einen guten Blick auf das Geschehen gewährte.
Alain Moreau, der kreative Kopf hinter dem Konzept, den Puppen, der Regie und dem Text, ist nicht nur der unsichtbare Lenker im Hintergrund. Er agiert auch aktiv auf der Bühne und begleitet die Puppe mit den Namen Jean Dekoninck auf ihrem Weg, stets an ihrer Seite. Moreau schafft es, durch seine stille Präsenz und sein einfühlsames Spiel, Emotionen und Gefühle bei den Zuschauer*innen zu wecken. Ohne Worte, nur durch seine ausdrucksstarke Mimik und Gestik, vermittelt er eine tiefe Sympathie und berührt das Publikum auf subtile, aber kraftvolle Weise. Sein Talent liegt darin, durch diese nonverbale Kommunikation eine Verbindung zu den Zuschauer*innen herzustellen.
Ob Alain Moreau einen flüchtigen Blick zum Publikum wirft, wenn durch die zarte Liebe und Intimität der Miniaturpuppen Rauchwolken entstehen, oder ob er mit der Puppe Jean eins wird, wenn unerwartete und ungünstige Situationen auftreten – wie in jenem Augenblick, als der Eismann die Zweisamkeit der Miniaturpuppen abrupt stört – all diese Momente zeigen uns eindrucksvoll, dass, obwohl die Stimme oft ein wichtiger Bestandteil der Kommunikation ist, es letztlich die Gestik und die Handlungen sind, die die wahren, unausgesprochenen Worte formen und das Erlebnis der Inszenierung umso intensiver und bewegender machen.
Doch in dieser Inszenierung tritt Alain Moreau nicht als alleiniger Puppenspieler auf. Stattdessen wird Jean selbst zum Akteur, der die Kunst und das Talent des Figurentheaters auf eine persönliche Miniaturbühne bringt. Wiesen und Büsche, eine Straße, ein kleines Picknick und ein scheinbar verliebtes Paar werden dargestellt. Auffällig ist die verblüffende Ähnlichkeit von Jean zu der männlichen Miniaturpuppe. Dies erweckt den Eindruck, dass es sich bei dem Miniaturspiel um eine Erinnerung der Puppe aus ihrer eigenen Vergangenheit handelt, an die sie sich gerne zurückerinnert.
Obwohl das Figurentheater einige humorvolle Darbietungen und Szenen bietet und die gesamte Inszenierung durchaus als Komödie betrachtet werden kann, bleibt der Gedanke bestehen, dass es sich um mehr als nur eine Komödie handelt. Wo ist die versprochene Poesie versteckt? Wo beginnt die Leidenschaft? Können diese beiden Begriffe, Poesie und Leidenschaft, wirklich nur durch die intimen Darstellungen innerhalb des gespielten Szenarios in Einklang gebracht werden?
Ein Radio, aus dem laute Musik dringt, ein glühend heißer Sommertag, der Eismann, der die Straße entlangfährt, Kühe, die friedlich umher laufen, und eine unbeschwerte Autofahrt – all dies sind vertraute Bilder und Erlebnisse, die tief in unserem kollektiven Gedächtnis verankert sind. Diese Szenen rufen eine Flut von Erinnerungen und Emotionen hervor, die wir alle teilen.
Vielleicht liegt die Antwort auf die Fragen, die die Inszenierung Summer '69 aufwirft, nicht in den Ereignissen auf der Bühne selbst, sondern in uns. Diese alltäglichen Momente, die scheinbar so gewöhnlich und doch so bedeutungsvoll sind, bilden den wahren Kern von Poesie und Leidenschaft. Es sind diese einfachen, aber tief empfundenen Erfahrungen, die uns verbinden und uns daran erinnern, wer wir sind und was uns ausmacht. Wenn wir an heiße Sommernächte zurückdenken – an das Gefühl von Freiheit, die Unbeschwertheit, das Rauschen des Windes durch die offenen Autofenster und an die warme Sonne, welche uns während wir auf der Wiese liegen auf den Rücken scheint - dann knüpfen wir an eine ganz persönliche Form der Poesie an, die in unseren eigenen Erinnerungen lebt. Diese Erinnerungen sind es, die die wahre Magie ausmachen. Sie sind es, die die Bühne unseres eigenen Lebens ausleuchten und uns zeigen, dass die wirkliche Kunst darin besteht, das Schöne im Alltäglichen zu erkennen und zu würdigen. Während die Inszenierung Summer '69 uns vielleicht anregt und inspiriert, liegt die tiefere Bedeutung und die wahre Leidenschaft in unseren eigenen Erlebnissen und den Geschichten, die wir uns selbst erzählen.
Nun kommen wir noch einmal auf den bemerkenswerten Umstand zurück, dass Jean selbst dieses kleine Miniatur-Puppenspiel führt. Am Ende des Stückes wird deutlich, dass Jean eine komplexe Gefühlslage durchlebt. Dadurch, dass die Puppe im Raum umher schaut und daraufhin plötzlich wieder der Gesang der Vögel zu hören ist, wirkt die gesamte Situation sowohl bedrückt als auch gelassen, als würde Jean der zuvor dargestellten Erinnerung mit einem weinenden und einem lachenden Auge gegenüber stehen. Dieses Wechselspiel von Melancholie und Freude, lässt die Zuschauer*innen eine tiefe Verbindung zu Jean spüren. Man kann förmlich die bittersüßen Emotionen nachfühlen, die die Puppe durchlebt, während sie ihre Erinnerungen durch das Miniatur-Puppenspiel zum Leben erweckt. Es entsteht eine Art stilles Einverständnis zwischen Jean und dem Publikum, ein gemeinsames Erleben der zarten und zugleich kraftvollen Poesie des Augenblicks. Obwohl der Humor nicht jedermanns Geschmack traf lässt sich festhalten, dass dies bei einer intensiveren Auseinandersetzung mit dem Stück kaum von Bedeutung ist. Die persönliche Wahrnehmung des Humors – ob er nun als gelungen empfunden wird oder nicht, ob einige Szenen als überflüssig oder gar übertrieben wahrgenommen werden – spielt letztlich eine nebensächliche Rolle. Viel wichtiger ist, welche Erinnerungen und Emotionen das Stück bei jedem Einzelnen geweckt hat. Es geht weniger um die Frage, ob die komödiantischen Elemente miteinander harmonieren und für das Stück geeignet sind, sondern vielmehr darum, welche tief verborgenen Gefühle und vergangenen Erlebnisse in uns aufblühen, wenn wir uns auf das Gesamterlebnis einlassen. Diese Erinnerungen und Emotionen, die aus dem Innersten hervorgeholt werden, sind es, die das Stück zu einem besonderen Erlebnis machen und eine bleibende Verbindung zwischen Bühne und Zuschauer*in schaffen.
Unsere individuellen Erfahrungen, Stimmungen und Persönlichkeiten beeinflussen, wie wir Kunst wahrnehmen und auf sie reagieren. Manche mögen in den stillen, nachdenklichen Momenten des Stücks einen tiefen Zuspruch spüren, während andere vielleicht mehr von den humorvollen und leichten Elementen angesprochen werden. Die wahre Schönheit der Inszenierung liegt jedoch darin, dass sie Raum für all diese unterschiedlichen Reaktionen bietet und jedem die Möglichkeit gibt, seine eigene Verbindung zu den dargestellten Szenen zu finden. Letztlich ist es diese Vielfalt an persönlichen Reaktionen und Empfindungen, die das Erlebnis so reich und vielschichtig macht. Egal, ob man sich von der Poesie und Tiefe des Stücks berührt fühlt oder einfach nur einen angenehmen Abend verbringt – jede*r Zuschauer*in trägt seine*ihre eigenen Erinnerungen und Eindrücke mit nach Hause, die das Erlebnis einzigartig machen. Mit anderen Worten: Die Inszenierung Summer '69 zeigt auf meisterhafte Weise, wie kraftvoll und berührend nonverbale Kommunikation sein kann und das Worte wie am Anfang erwähnt, manchmal garnicht nötig sind, um zu zeigen, was man fühlt.
Weitere Informationen zur Gruppe und zum Stück gibt es HIER.
Foto: My-Linh Bui