Münchner Kammerspiele: „Oh Schreck!“
31. Januar 2025
Das Licht der Deckenlampe in der Dental-Praxis „Alphabite“ ist grell. Der Endgegner für Vampire à la Nosferatu – ein Lichtstrahl und sie zerfallen zu Staub. Walther von der Hess (Walter Hess) möchte trotzdem einer von ihnen werden, schließlich sei er der geborene Darsteller für die Rolle des Urgesteins der Untoten alias Graf Orlok, „und da möchte ich mich aufdrängen“, gibt er der Dentistin zu verstehen. Seine gewünschte Bestellung: zwei dominante Eckzähne in gebrochenem Weiß. Aber beim Sprechen sollten sie möglichst nicht zischen, denn „Theater ist ja nicht nur Wirkung, sondern auch Sprache!“
Theater, wie Jan-Christoph Gockel es mit „Oh Schreck!“ auf die Bühne bringt, ist vor allem Eines: Eine Szenenshow der Kuriositäten quer durch Zeit und Raum, präsentiert von einem furiosen Ensemble, das einen Sarg voll Überraschungen bereithält, sofern sich die Vampire der Kammerspiele nicht gerade selbst darin befinden. Das ist nicht sehr unwahrscheinlich, denn in Gockels Hommage an Murnaus Stummfilm „Nosferatu“ ist der Großteil der Theater-Crew (ausgenommen Walther von der Hess, der nur zu seiner Tarnung im Sarg schläft) zu Blutsaugern geworden. Oder waren sie schon immer Untote? Das sagt man zumindest dem mysteriösen Schauspieler Max Schreck nach, der seinerzeit in „Nosferatu“ die Hauptrolle spielte und auch an den Münchner Kammerspielen tätig war. Der Legende nach soll er sich nach seinem plötzlichen Tod noch in den Keller-Gewölben des Theaters herumtreiben – oder eben, oh Schreck, auf der Bühne! Hier sorgen aber auch andere Gestalten mit langen Fingern, abstehenden Ohren und spitzen Zähnen für ein Programm mit Tempo. Sogar Tiere an der Schwelle zum Phantastischen kriechen kurzzeitig aus ihren Verstecken: Da wäre eine Waschbär-Marionette, elegant geführt von Puppenbauer Michael Pietsch als Vampir in glitzerndem Umhang. Und dann gibt es noch die Werwolf-Masken, unter denen sich Mitarbeitende des Münchner Volkstheaters verstecken. In einem auf der Bühne abgespielten Video ist das maskierte Wolfsrudel dabei zu sehen, wie es sich Eintritt in die heiligen Hallen der Kammerspiele verschafft, um dort den Saal aufzumischen.
"Oh Schreck!": Waschbär und Werwölfe © Armin Smailovic
Murnaus „Symphonie des Grauens“ wird in Gockels Inszenierung mit atmosphärisch abgestimmter Live-Musik von Anton Berman zur Polyphonie – zwischen grölendem Gothic-Sound und poppigen Synthies. Zwischendrin verstummt das Geschehen. In kurzen Einschüben ziehen Fragmente aus dem Nosferatu-Original in nostalgischen Bildern über die Bühne. Schwarz-weiße, menschengroße Puppen, gebaut von Michael Pietsch, verkörpern die Figuren aus dem Stummfilm. Sprachlos erzählen sie aus einer vergangenen Zeit: Von Thomas Hutter, der nach Transsylvanien zum Grafen Orlok reist, denn „Graf Orlok wünscht in unserer Stadt ein Haus zu kaufen.“ Die Dialoge verschriftlicht Zeichnerin Sofiia Melnyk – Sätze und Illustrationen werden in Echtzeit auf den Bühnenhintergrund projiziert. Im Vordergrund schweben anmutig die Puppen, die aussehen, als wären sie einst eingeäschert, zerfallen und wieder zusammengefügt worden. Geführt werden sie von den Vampir-Schauspieler:innen, die auf innige Weise mit den Puppen zu einem Gesamtkörper verschmelzen. Es sind Momente wie diese, die Poesie erwachen lassen und inmitten der Splattershow kurze Lücken für das Geisterhafte, Unkonkrete frei machen.
"Oh Schreck!": Nadège Meta Kanku, Jelena Kuljić © Armin Smailovic
Die Bühne dreht sich und mit ihr die erzählte Zeit – die Vampire sind zurück in der Gegenwart. An Raffung fehlt es dem Abend nicht, denn kaum ändert sich das Setting, tritt auch schon die nächste schräge Figur auf. Es ist Kristine Van Helsing (Katharina Bach), die als Vampir-jagende Theaterkritikerin die Bühne stürmt. Ausgerüstet mit Hammer und Holzpflock, die aus ihrem Louis-Vuitton-Täschchen purzeln, stürzt sie sich in einem rasenden Monolog nicht etwa auf Max Schreck, wie geplant, sondern auf die deutsche Sprache: „ich spreche, also bin ich“. Mit humoristisch gespielter Zwanghaftigkeit zerlegt sie Syntax zu Silben, hangelt sich von Wortfeld zu Wortfeld und spinnt Assoziationsketten (Klimakrise, Katharsis, Moral-Kakophonie, Kammerspiele), in denen sie sich letztlich selbst verheddert: „ich bin eine Kritikerin!“ Damit spielt sie auf einen Theater-über-Theater-Diskurs an, der leise in sich hinein lachend über dem gesamten Abend schwebt. Angefangen bei Dennis Dorn (Dennis Fell-Hernandes), dem Intendanten, der sich gerne aus allem rauszieht, aber wenn’s sein muss doch mal ins Telefon brüllt, über den Taugenichts-Regisseur Wolfgang (Sebastian Brandes) im blauen Trainingsanzug bis hin zu den von der Kulturbranche ausgesaugten Schauspieler:innen in einem „blutleeren Theater“.
Vielleicht ist es die Mischung aus kreischender Komik, Wortwitz und Ideenreichtum, die den Abend so kurzweilig macht. Und vielleicht ist es genau das, was selten gelingt, aber viel kann, wenn es gut konzipiert ist: Theater, das unterhält, ohne flach zu werden. Und das mit spitzen Zähnen – oh Schreck!
Münchner Kammerspiele: „Oh Schreck!“
Eine Vampirkomödie von Jan-Christoph Gockel inspiriert von F. W. Murnaus „Nosferatu“ und dem Leben von Max Schreck
Mit Katharina Bach, Anton Berman, Sebastian Brandes, Dennis Fell-Hernandez, Walter Hess, Frangiskos Kakoulakis, Nadège Meta Kanku, Johanna Kappauf, Jelena Kuljić, Sofiia Melnyk, Nina Moorgat, Michael Pietsch, Leoni Schulz | Regie Jan-Christoph Gockel | Idee und Konzept Jan-Christoph Gockel, Claus Philipp | Bühne Julia Kurzweg | Kostüme Sophie du Vinage | Puppen Michael Pietsch | Musik und Komposition Anton Berman | Video Lion Bischof | Live-Zeichnung Sofiia Melnyk | Lichtdesign Christian Schweig | Sounddesign Katharina Widmaier-Zorn, Korbinian Wegler | Dramaturgie Viola Hasselberg, Claus Philipp | Text „van Helsing“ Katharina Bach
Premiere: 24. Januar 2025
Dauer: 1 Stunde 50 Minuten
(Alle Besucher*innen, die im Grusel-Kostüm zur Vorstellung kommen, erhalten ein besonderes Geschenk am Büchertisch. Vampires, witches and werewolves welcome!)
Infos und weitere Spieltermine auf der Website der Münchner Kammerspiele