Die aktuelle Kritik

Theater Altenburg-Gera: "Biografie: Ein Spiel"

von Andreas Herrmann

Premierentrubel inmitten der Absagenwelle: Das Theater Altenburg-Gera, welches als Fünf-Sparten-Haus derzeit in Altenburg ein riesiges Theaterzelt als Interim und in Gera einen eindrucksvollen Kulttempel bespielen darf, feierte nun einen regelrechten Premierenreigen. Dabei kam auch das neueste Stück der Puppensparte „Biografie: Ein Spiel“ zur Aufführung.

Die Puppensparte hat ihr kleines Theater hingegen mitten in der Innenstadt, ihre Max-Frisch-Fassung „Biografie: Ein Spiel“ wurde als viertes Stück beim ambitionierten Neustart auf die Bühne gebracht und war schon am zweiten Wochenende, also bei den Vorstellungen zwei bis vier, die einzige unabgesagte Veranstaltung. Und die versprach viel – und hielt alles! Holk Freytag präsentierte eine eigens überarbeitete Textversion der 84er Neuauflage von Frischs Klassiker als Hybrid zwischen Schau- und Puppenspiel. Die Premiere war dabei eigentlich für Mitte April 2020 vorgesehen – das Chemnitzer Schauspiel, 60 Kilometer weiter östlich, schaffte die Aufführung des gleichen Stücks zehn Wochen zuvor gerade noch so.

In Gera gab man Bühnenaltmeister Holk Freytag den Auftrag, dessen kraftvolle Inszenierungen aus seiner Zeit als Staatsschauspielintendant in Dresden man in verklärter Erinnerung vermisst – aber immerhin ist er dort immer noch als bislang letzter Intendant mit Drang zu eigenen Regiearbeiten und damit dem Mut zur Kritik verzeichnet. Er gehört zur alten Schule jener Dialektiker*innen, die auch die andere Seite zu verstehen suchen – eine immer seltenere Tugend unter Theatermacher*innen. Er hat einen warmen Draht gen Gera und lieferte hier schon „Seide“ nach dem Roman von Alessandro Baricco.

Nun nimmt er sich die Story um den stark mitgenommenen, todkranken Verhaltensforscher vor, der die exklusive Chance erhält, in seinem Leben einmal zurückzuspringen, um alles besser zu machen. Freytag bastelt sich aus der zweiten Fassung von 1984 eine ziemlich gewagte, pausenlose Kurzversion und treibt sein Spielquartett, darunter Puppenchefin Sabine Schramm als leibhaftige Assistentin und Putzfrau, die dazu noch alle Randfiguren spielt, zu einer kompakten Kollektivleistung. Puppenbauer und Ausstatter Udo Schneeweiß, bereits seit neun Jahren für das Puppentheater Gera tätig, schuf hierfür markante Puppen und ein blaugraues, begehbares Bühnenpodestlabyrinth für mehrere Spielebenen.

"Biografie: Ein Spiel" © Ronny Ristok

Die Geschichte vom frisch berufenen Psychoprof Hannes Kürmann, von Tobias Weishaupt schön zerrissen gegeben, beginnt und endet mit einer wohl nicht ganz zufälligen Begegnung mit der jungen wie legeren Galeristin Antoinette, elegant von Maria-Elisabeth Wey gespielt. Sie ist am Beginn 29, er am Ende immer 49.  Je nachdem wie weit er in sein Leben zurückspringt, variiert die Zeit, die ihm bis zum Magenkrebs verbleibt. Geschickterweise bleibt der genaue Spielzeitpunkt der Intervention offen, er wünscht sich angeblich ein Leben ohne seine zweite Ehefrau, die – viel zu jung und viel zu schön – bei der Spontanparty zu seiner Habilitation einfach nachts um zwei auf seiner Couch sitzen bleibt. Mehrere Versionen sind möglich, doch immer wieder entsteht daraus eine Ehe …

Der Spielleiter Stefan Wey fungiert für Hannes Kürmann als eine Art Schicksalsengel mit Zeitmaschine, allerdings ist er kein Eheberater. Seine Assistentin hat das bibelfette Drehbuch seines bisherigen Lebens parat. Stärker als in anderen „Biografie“-Inszenierungen bleibt hier Egon Stahel, der Architekt und Liebhaber von Antoinette, im Hintergrund immer am Ball und bekommt ganz zum Schluss ein Gesicht (als Figur). Dazu gibt es prägnante Videos in Zeichentrickmanier, die vor allem die Schneeballaugenschussszene aus der Jugend prägnant verkürzen und auch in eine surreale Küchenwelt entführen.

Denn seine drei größten Sündenfälle, die der Psychologe bewusst in seiner Vita belassen will, weil er keine Lust auf neuerliche Schulzeit plus Pubertät oder die Aufarbeitung des Selbstmordes seiner ersten Frau und den Verrat an seiner Freundin Helen in Amerika hat, werden nur ganz kurz angedeutet, der Fokus liegt auf der Dreierbeziehung. Und hier gelingt Freytag ein herrliches Bild, was nur Puppentheater kann: Kürmann und Stahel sitzen auf den Schenkeln von Tobias Weishaupt – und alle drei haben das gleiche Problem: sie lieben dieselbe Frau.

"Biografie: Ein Spiel" © Ronny Ristok

Frisch, sicher als Romancier der (noch) bessere Autor, kommt nie ohne politische Bezüge aus, die er allerdings dezent in seine Handlungen verwebt: hier Pseudo-Mitgliedschaft in kommunistischer Partei und gesellschaftliche Deformationen, ausgelebt in Neudefinition von Sitten und Tugenden. Das Team verzichtete klugerweise auf tagesaktuelle Bezüge. Dass das Werk nicht nur sprachlich gediegener, sondern auch gerissener, radikaler und feministischer als jene Stücke heutiger Zeitgenoss*innen in der Branche erscheint, mag traurig stimmen. Aber dank solcher Produktionen lebt dieser Geist weiter und kann mit seiner herrlichen Pointe, die man gern mindestens alle fünf Jahre neu genießt, auch in der kompakten 70-Minuten-Geraer Fassung aus Schau- und Puppenspiel, bei der alles inklusive Film-, Licht- und Tonregie stimmig gelingt, grandios punkten.

Die Folge bei der dritten Vorstellung am vergangenen Freitag: ein sehr, sehr langes Betroffenheitsschweigen vor dem herzlichen wie verdienten Beifall. Holk Freytag gelingt hier mit seinem Spielquartett ein erquicklicher Theaterabend mit langer gedanklicher Nachhallzeit – nicht nur für Professor*innen und deren mehr oder minder treue Verhaltensforscher*innen als Zielgruppe. Ergo: Thüringer Deutschlehrer*innen, schnappt euch eure Leistungskurse – und frisch ab zum „Biografie“-Figurenspiel nach Gera!

Dort wird übrigens bald wieder gefeiert: Marcella von Jan verabschiedet sich ab 9. April mit zwei Versionen des Märchens „Vom Fischer und seiner Frau“ per Premiere nach 45 Jahren Geraer Puppenspiel in den „(Un-)Ruhestand“. Eine für Kinder ab vier – und eine jugendfreie für Erwachsene – beide in Regie von Pierre Schäfer. Da es jeweils zwei Stücke in beiden Städten sind, warten auf sie bis 7. Mai vier Premieren und mindestens zehn Vorstellungen. Sie spielte hier unter anderem 40 Jahre lang „Rapunzel“ in ein und derselben Inszenierung – und bleibt als Gast erhalten. Das ist gut so, denn sie ist derzeit auch in zwölf anderen Inszenierungen besetzt. Darunter im Geraer „Jedermann“ – als Solo!

 

„Biografie: Ein Spiel“ von Max Frisch (Fassung von 1984)

Premiere: 05.03.22, Puppentheater Gera

Inszenierung: Holk Freytag; Puppen, Bühne: Udo Schneeweiß; Kostüme: Elena Köhler; Dramaturgie: Jörg Neumann; Bühnenmusik: Olav Kröger; Videoproduktion: René Grüner; Spiel: Tobias Weishaupt, Maria-Elisabeth Wey, Stefan Wey, Sabine Schramm

Fotos: Ronny Ristok

1 Kommentar
Peter Waschinsky
27.03.2022

Biografie

"Eine Inszenierung mit kluggewählten theatralen Mitteln und schön gesetzten Metaphern, mit starkem Text und einer nachhaltigen Botschaft.“ Ostthüringer Zeitung
(Fidena-Portal begrüßte unlängst meine Idee, wie "Nachtkritik" Kernsätze auch aus anderen Rezensionen anzuhängen - was ich hiermit tat)

Aber liest hier eigentlich noch jemand? Kommentieren tut jedenfalls schon lange keiner mehr außer mir. Auch daran wohl erstarb schon vor Jahren https://puppenspiel-portal.eu/, m.W. am Puppenth. Waidspeicher Erfurt angesiedelt, aber nur noch als Web-Leiche: Erst nach sehr genauem Hinsehen merkt man, daß die Neuigkeit , Frau B. hätte den ASSITEJ-Preis bekommen, NEUN JAHRE alt ist.

Das Frisch-Stück wurde übrigens in den 80ern am Waidspeicher Erfurt erstmals mit Puppen gespielt. Hier in Gera fallen mir die ewig gleichen Fotos auf: Spieler hinter Tisch, darauf realistische Tisch-Puppen. Ähnlich auf den Fotos zu "Fräulein Smilla" - gleiche Seite hier. So wie meist Puppenth. Halle... . Und wieder mal wirken die Spieler stärker. Nur auf den Fotos?

Etwas deprimierend übrigens, wenn die Geraer Mitspielerin M.E. Wey in ihrer umfänglichen Web-Biografie nur einmal kurz Puppen erwähnt, um nur ja nicht als diplomierte Puppenspielerin, die sie ist, zu erscheinen, als müsse man sich dafür schämen.
Aber vielleicht muß man das wirklich wieder, um zu überleben.
Auch im Puppentheaterland Thüringen !

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