Die aktuelle Kritik

Tjg Dresden: "Ich bin Kain."

Von Jessica Hölzl

Biblischer Stoff in einer bildnerisch raffinierten und vielperspektivischen Inszenierung.

Am Anfang war’s dunkel auf der Bühne, kleine Geräusche kündigen den Beginn der Welt, es pfeift und summt, hechelt und stöhnt, ein Blech donnert, ein Kind wird geboren. Vier Spieler_innen in dunklen Anzügen führen durch das Geschehen und erzählen die Geschichte vom Anfang der Menschheit, wie es im heiligen Buch geschrieben steht – mit ein paar entscheidenden Unterschieden.

Aus dem Paradies vertrieben leben und arbeiten Adam und Eva im Schweiße ihres Angesichts mit ihrem Sohn Kain, ein wissbegieriges, aufgewecktes Kerlchen, das sie mit seinen Fragen nach Leben und Tod, Heimat und Herkunft regelmäßig an ihre elterlichen Grenzen bringt. Und als hätte die erste Familie mit ihren eigenen Sorgen nicht genug zu tun, ist da auch noch ER mit seinen undurchsichtigen Wünschen und Forderungen an die Menschen, der die häusliche Ruhe mit Sandstürmen und einstürzenden Haustüren stört…

Mit dem zweiten Sohn ändert sich das Leben der Familie. Abel ist ein Angeber und Klugscheißer, der seinen Angehörigen sehr deutlich zu verstehen gibt, wer hier SEIN Liebling ist, und seine Eltern mit der Aussicht auf eine Rückkehr nach Eden um den Verstand bringt. Kein Wunder, dass der bodenständige Kain seinen Bruder nicht leiden kann - und so nimmt das bekannte Schicksal seinen Lauf.

Bildnerisch raffiniert und begeisternd vielperspektivisch gebaut wird der biblische Stoff im tjg Dresden auf mehreren Ebenen zur Darstellung gebracht. Eine Art Miniaturlandschaft aus trockener Steppe mit winzigen Grasbüscheln, kleinen Schafen und fingergeführten, vielleicht zehn Zentimeter hohen Standfiguren zieht sich auf einem schmalen Streifen am vorderen Rand über die gesamte Bühnenbreite. Mittels einer fahrenden Kamera werden die einzelnen Szenen vergrößert auf die transparente Bühnenrückwand projiziert. Unter klugem Einsatz von Bildprojektionen wird diese Perspektive wird immer wieder abgelöst durch Szenen, die auf der zentralen Bühne statt finden und als quasi großformatige Zoomeinstellungen das Hausinnere zeigen. Die hier eingesetzten kniehohen Puppen, in Felle gehüllt und an Kopf und Extremitäten handgeführt, erinnern in ihrer Aufmachung ein bisschen an Familie Feuerstein. Die beinah karikaturhaften Züge der geschnitzten Gesichter mit beweglichem Kiefer - Eva mit tiefen Lidern und spitzem Mund, Adam mit braunen Kulleraugen und einer hohen kahlen Stirn – kommen in der präzisen und liebevollen Bespielung enorm gut zur Geltung.

Faszinierend sind die fließenden Übergänge zwischen den Ebenen, die klug gesetzt immer wieder vom Überblick ins Detail zoomen, detailverliebt Miniaturtiere und -windräder bespielen, um dann in spielerischer Virtuosität mittels der ausdrucksstarken Puppen die Grundsatzdiskussionen zwischen Kain und Abel um Recht und Unrecht, Wahrheit und Lüge wiederzugeben. Besonders eindrucksvoll stellt sich der erste Streit der Brüder zwischen technischem Fortschritt und Opferglaube, menschlicher Souveränität und Gottesfurcht dar, der von den Figuren auf die Spieler_innen übergeht und in einem handfesten Gerangel mündet, bis das Gesicht des Abel-Spielers vor dem Kameraauge landet und allmählich mit dem Gesicht der Puppe verschmilzt. Auch für die Ohren bietet das Stück für Jugendliche und Erwachsene ab 12 Jahren eine Bandbreite an Songeinlagen, Techno-Beats und analog produzierten Geräuschen.

Einzig ein wenig mehr Ambivalenz hätte die Figurenzeichnung vertragen können. So gerät der für zeitgenössische Augen in seiner pharisäischen Frömmigkeit und sichtbarer Einfalt sowieso schon unsympathische Abel im abschließenden Opfervergleich durch Schadenfreude und Boshaftigkeit gegen Kain ein wenig zu sehr zum unbestrittenen Bösewicht. Diese Schematisierung der Figur Abels nimmt dem in der Schwebe bleibenden Brudermord ein wenig seiner polarisierenden Wirkung.

Und doch bleiben zum Ende offene Fragen. Anstatt die Geschichte zu Ende zu erzählen, verhallt die vieldimensionale und abwechslungsreiche Inszenierung zwischen High-Tech und DIY in zarten Klängen – gelungen, wie der tosende Applaus am Ende der Premiere deutlich macht.

Premiere: 23.03.2019

Spiel: Viviane Podlich, Daniil Shchapov, Ulrike Schuster, Uwe Steinbach

Regie: Nis Søgaard

Bühne, Kostüm, Puppen und Modelle: Jonathan Gentilhomme

Puppenbau: Lili Laube

Video: Marco Prill

Dramaturgie: Christoph Macha

Theaterpädagogik: Nicole Dietz

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