Die aktuelle Kritik

Figurentheater Chemnitz: „Versuch über meinen Großvater“

Von Vincent Koch

Karen Breece schafft in der Kulturhauptstadt Europas einen dichten Abend über die Lücken in Familienbiografien.

9. Mai 2025

Da ist das große Schweigen. Immer, wenn um das eine Thema geht. Da macht die Familie dicht. Lieber wird über das Wetter gesprochen. „Das war damals halt so“ – Frida hat darauf keinen Bock mehr. Sie will die Lücke in ihrer Familienbiografie nicht mehr hinnehmen. Nur ein paar grobe Anhaltspunkte hat sie von ihrem Großvater: Vertreibung, Krieg, Flucht, NS-Alltag. Keiner will was wissen. Also macht sich Frida selbst auf die Suche.

Frida ist eine Figur von Karen Breece, die „Versuch über meinen Großvater“ geschrieben und inszeniert hat. Der Abend ist im Rahmen der Europäischen Kulturhauptstadt 2025 am Figurentheater Chemnitz entstanden und Teil von „Inside Outside Europe“. Bei diesem gemeinschaftlichen Projekt zwischen den Theatern Chemnitz, Plauen-Zwickau, Freiberg/Döbeln und Annaberg-Buchholz wurden im selben Bühnenbild – ein halboffener Raum mit kahlen Wänden, die an ein Wartezimmer erinnern – vier unterschiedliche Abende konzipiert, um europäische Geschichte erfahrbar zu machen. Im April waren die Abende als Marathon hintereinander zu erleben, werden seitdem einzeln gespielt, eine Tour als Tetralogie durch die anderen Städte folgt im Herbst.

In „Versuch über meinen Großvater“ nimmt Karen Breece die reale Geschichte von Gundula Hoffmann, der Leiterin des Chemnitzer Figurentheaters zum Ausgangspunkt ihrer Recherche. Ihr Großvater kam aus dem Sudetenland, heutiges Tschechien. Er praktizierte dort als Arzt, bevor er 1942 aufgrund seines Renommees als „Seuchenspezialist“ nach Lemberg versetzt wurde. Diese Stadt gehört heute als Lwiw zur Ukraine und war früher ein Teil Polens, bekannt für die größte jüdische Gemeinde des Habsburgerreichs. Also eine Stadt, in der verschiedene historische Ereignisse der letzten hundert Jahre abzulesen sind. Michael Wildt nennt diesen Ort in der ZEIT nicht ohne Grund „das blutende Herz des Ostens“.*

"Versuch über meinen Großvater": Gundula Hoffmann, Arne van Dorsten, (hinten) Jakob Ferdinand Lenk © Nasser Hashemi

Karen Breece schickt nun neben Gundula Hoffmann als Frida auch die Spieler*innen Arne van Dorsten und Jakob Ferdinand Lenk auf Spurensuche, um zu ergründen, was Fridas Großvater genau in Lemberg gemacht hat. Zugespitzt: welche Rolle er im Faschismus eingenommen hat. Mit großer Aufrichtigkeit und Körperspannung werfen sie sich in diesen dichten Textkörper. Der Abend ist angelegt als klassisches Dokumentartheater. Passagen, die dezidiert autobiografisch grundiert sind, wechseln sich mit nüchternen Gerichtsnotizen, Briefen und Fotos ab, die immer wieder auch an die Wand projiziert werden, als wäre der Abend selbst ein Gerichtsprozess mit der eigenen Familie: „Schau mal, ich hab‘ das Foto gefunden, bei dem mein Großvater mit lauter Nazis am Tisch sitzt, die gerade die Selektion von Jüd*innen besprechen.“ Der Verdienst von Karen Breece‘ Textzugriff ist, dass er immer nach den persönlichen Noten fahndet und so das Individuum hinter dem System herauszulocken versucht – was toll ist, weil es Universelles im Privaten erzählt, ohne um sich selbst zu kreisen.

Mit im Gepäck hat das Trio zwei von Hagen Tilp und Ulrike Langenbein gestaltete Vierfüßler-Puppen. Heraus sticht vor allem Onkel Alfred, weil der – anders als Fridas Großvater – noch am Leben ist und erzählen kann von damals. Der Großvater selbst steht nicht auf der Bühne, dafür aber mit Ludwig Fleck eine jüdische Figur: ein hagerer Mann mit Brille, der als Mikrobiologe in Lemberg arbeitete und dann zwangsdeportiert wurde. Alle Spieler*innen führen die Puppen gemeinsam – nur Frida tritt immer wieder heraus, und konfrontiert sie mit ihren Recherchen. Mal kommt Hoffmann der Alfred Puppe sehr nah, will um jeden Preis etwas herausbekommen aus dem stoischen Mann, der mit seinem schütteren, grauen Haar und tiefen Furchen im Gesicht vom Leben gezeichnet ist. Mal sitzt sie einfühlsam auf dem großen Steg, der die ganze Bühne einnimmt. Sie schaut ihm tief in die Augen und bleibt bestimmt, aber immer respektvoll. Das alles ergibt ein fein gearbeitetes Verhältnis aus Nähe und Distanz, Wissen-Wollen und Schweigen.

"Versuch über meinen Großvater": (v.l.n.r.) Arne van Dorsten, Gundula Hoffmann, Jakob Ferdinand Lenk © Nasser Hashemi

Szenisch passiert an diesem Abend nicht viel, der Fokus liegt voll auf Text und Inhalt. Neben ein paar etwas bemüht wirkenden Auflockerungen (wie durch eine Diskokugel und poppige Musik) sind auch Brüche dabei, die dem Abend guttun, weil sich die härteren Passagen mit dem lakonischen Erzählton gut ergänzen. Mutigstes Regiemittel ist sicherlich die fette Nazi-Katze, im Programmheft als „The Katz Man“ bezeichnet. Reales Vorbild für ihn war Fritz Katzmann, SS-Führer des sowjetisch besetzten Gebiets Galizien mit Sitz in Lemberg. In der Inszenierung nicht viel mehr als ein Stück Fell mit einem nachgebildeten Katzenschädel, der von einem Spieler geführt wird. Er miaut und erzählt, wenn der Onkel schweigt, schreit herum, dass es an Hitlers Reden erinnert. Teilweise kippt das etwas sehr ins Klamaukige, aber es ist auch gut, dass diese Inhalte hier nicht einfach reproduziert werden, sondern grundsätzlich auf einer anderen Ebene stattfinden – auf einer, die eigentlich schon ausgestorben ist.

Es ist vielversprechend, dass die Enkel-Generation auch im Figurentheater offen ihre Stimme erhebt und das Erbe der eigenen Familie verhandelt. „Versuch über meinen Großvater“ ist genau das: ein Versuch, dieses schwergewichtige Thema auf der Bühne zu verhandeln, was in seiner konzentrierten Stimmung funktioniert. Am Ende des Abends sitzen Frida und Onkel Alfred nebeneinander auf dem Steg, mit dem Rücken zum Publikum. Vor ihnen auf der Wand läuft der Film einer Autofahrt, aufgenommen aus der Windschutzscheibe. Gemeinsam nehmen sie die Kurven, neigen ihre Köpfe, dazu läuft „No cars go“ von Arcade Fire. Alfred hat sich überwunden, mit Frida zurück an den Ort zu fahren, an dem das Leben seines Bruders stattfand, in dem es so viele Lücken gibt. Und in diesem wirklich anrührenden Moment glaubt man, dass die beiden sich im Laufe des Abends doch ein bisschen nähergekommen sind. Dass diese entsetzliche Lücke ein klitzekleines bisschen kleiner geworden ist – und Fridas Verantwortung, damit umzugehen, noch viel größer.


* "Lwiw: Das blutende Herz des Ostens" von Michael Wildt, erschienen in 


Figurentheater Chemnitz: „Versuch über meinen Großvater“

Ein Projekt für Chemnitz 2025

Regie und Text Karen Breece | Projektleitung und künstlerische Mitarbeit Gundula Hoffmann, René R. Schmidt | Recherche René R. Schmidt, Karen Breece | Bühne und Kostüme Nikolai Kuchin, Tina Hübner | Puppen Hagen Tilp, Ulrike Langenbein | Dramaturgie Friederike Spindler | Es spielen Arne van Dorsten, Gundula Hoffmann, Jakob Ferdinand Lenk

Premiere: 12. April 2025
Dauer: 70 Minuten
Alter: ab 15 Jahren

Infos und Spieltermine auf der Website der Theater Chemnitz