Die aktuelle Kritik

Westflügel Leipzig: "Beautiful Disaster. Expeditionen ins Junge Figurentheater"

Von Jessica Hölzl

Unter einem neuen Namen präsentiert sich „Beautiful Disaster – Expeditionen ins Junge Figurentheater“ im Oktober 2021 mit ungebrochener Spiellaune nach einer digitalen Ausgabe wieder live in den Räumen des Westflügels. Zu diesem Nachwuchsformat lädt der Westflügel Leipzig jährlich junge Figurentheaterkünstler:innen ein, ihre ersten Arbeiten, Diplomstücke und Tryouts vor Publikum zu präsentieren.

Über zwei Wochen erstreckte sich in diesem Jahr das Programm in Ballsaal und Bar, dicht gefüllt mit sehr unterschiedlichen Produktionen, Workshops und Konzerten. Eindrücklich spiegelt das Format die enorme Bandbreite, die sich unter dem Begriff Junges Figurentheater in der Szene wiederfindet. Ein Theaterabend dieser Art besteht aus mehreren kleinen Stücken, sodass die Zuschauer:innen Einblicke in ganz unterschiedliche Bereiche dingtheatralen Spiels erhalten. Manuell geführte Puppenköpfe lösen objektbiographisches Erzählen ab, auf begehbare Installationen in der Bar folgen assoziative Erkundungen zwischen Körper und anderen Materialien auf der großen Bühne. Von Handymusik über Instrumentalbegleitung bis hin zu dinglich erzeugtem Sound, unter Einbezug von Videokunst, der richtigen Ausleuchtung und des Publikums zeigt sich der zeitgenössische Figurentheaternachwuchs im Westflügel in begeisternder Vielfalt, nachhaltig experimentell und mit enormer Spielfreude.

Gleich zwei Stücke bringen traditionelle Tricksterfiguren in Form recht klassischer Handpuppen auf die wackelige Guckkastenbühne. Wenn der Kasper seine Fördergelder endlich mal in Kunst investiert – da kann man sich wirklich freuen! Mit Omas Zauberwürsten verwandelt sich der Raum in eine Bühne und schon füllen Tröten und Gesang den Raum. Zwischen klassischem Botenbericht und allerlei Mundarten lässt Linda Fülle ihre Puppen eine heitere Romanze geben, wie man sie noch selten gesehen hat. Und beim nächsten Mal? Macbeth.

Théatre GUDULE: Santa Pulcinella © Marta PELAMATTI

Mit „Santa Pulcinella“ präsentiert Mehdi Pinget unter der Begleitung von Marta Pelamattis Livemusik eine Wiederkehr des Pulcinella als wunderbare Handpuppe mit typisch schwarzer Halbmaske und bedrohlichem Schlagstock. Dabei ist das Handlungsschema des Prügelns und Geprügeltwerdens bekannt, doch gelingt hier eine spielerisch so präzise und unterhaltsame Zuspitzung der wilden Hetzjagd mit einer Vielzahl an pelzigen, haarigen und glatzköpfigen Widersachern, dass einem angesichts des blutrünstigen Pulcinella zum Schluss selbst der Tod leidtun kann.

„Fragt mich, was ich werden will und ich sag“ erzählt als biografisches Objekttheater anhand eines einzigen Satzes von Kindheitsträumen und Erwachsenwerden. Inmitten eines Teppichs voller Alltags- und Fußballbedarf probieren die Spieler:innen (Gala Goebel und Gerda Knoche) Haltungen, Posen und Möglichkeiten eines zukünftigen Lebens (vielleicht als Fußballstar?) aus. Der kluge Einsatz der Handkamera bricht theatrale Setzungen, wenn wir den Spieler:innen auf ihrem Weg zur Bühne folgen und erzeugt andernorts eine besondere Intimität, indem alte Fotoalben zum Bühnenbild der Erinnerung projiziert werden.

Zwischen Unmengen wattegefüllter Nylonstrümpfe sucht jemand nach den Überresten. Was, außer obszön wirkenden Gliedmaßen bleibt, wenn die romantische Liebe vorbei ist? Als assoziative Materialrecherche und eindringliches Nachspüren eines ganz großen Themas erklingt Liesbeth Nenoffs Ode an das Ende zur Karaokeversion von Diana Kralls Cry me a river. Zum Schluss wirken Feinstrumpf und Schulterblatt einander seltsam ähnlich, wenn die Spielerin sich schließlich in komplizierten Verrenkungen aus dem Suit pellt, wie aus längst überholten Vorstellungen von der Liebe. Und der Welt. Und all dem.

Annina Mosimann: Mycelium © Fernando Munizaga

„Mycelium“ führt eine Forschungsreise durch die Verhältnisse von Material und Körper vor, die auf bildgewaltige und klug komponierte Weise die vielfältigen Möglichkeiten des Materials ausloten. Aus dem Hefeteig, den die Spielerin (Annina Mosimann) in der Eingangsszene souverän knetet, entwickelt sich ein Universum möglicher und unmöglicher Zusammenhänge, Verbindungen und Einverleibungen. Kleine Gestalten entstehen und werden wieder zu einem Gebilde, der Teig erzeugt Sound und verbindet sich mit dem Körper der Spielerin. Das Material verwandelt sich zu einander verschlingenden Kreaturen und wird schließlich selbst aus dem menschlichen Körper geboren.

Eine figurentheatrale Miniatur erzählt Adeline Rüss mit der Geschichte des schüchternen Herrn Moritz, dessen Unentschlossenheit beim Eiskauf eine Kaskade unerwarteter Ereignisse nach sich zieht. Aus dem wunderbar einfachen Plot entspinnen sich vielfältige kleine Szenen und utopische Momente, deren besonderer Reiz in der spielerischen Virtuosität sowie der beeindruckenden Reduktion des Materials liegt. Eine Eistüte aus Papier wird zum Hut, zum Bäumchen und dann zum Megafon, wenn Herr Moritz all seine Willenskraft zusammennimmt und ruft „Sonst Schoko!“

So realisiert sich Kelly Clarksons in ihrer Pophymne artikulierte Hoffnung auf mehr Schönheit als Katastrophe in „Beautiful Disaster“ vollauf in einem dichten und bunten Programm, das sich bis zuletzt durch mannigfaltige Schönheit auszeichnet.

And if I could hold on/ Through the tears and the laughter/
Would it be beautiful/ Or just a beautiful disaster?
[Kelly Clarkson]

Zu bedauern bleibt nur, nicht an allen Abenden dabei gewesen zu sein. Gerade ein solches Format erzeugt in der Kombination der einzelnen Produktionen ein spezifisches Gesamtbild, in dem andernfalls einige Stücke, Aspekte und Seheindrücke schlichtweg fehlen. Für dieses persönliche Desaster, für das die Autorin des vorliegenden Textes keine Entschuldigung außer schnöder Sachzwänge vorzuweisen hat, gibt es nur eine Lösung: Mehr solcher wunderbarer Katastrophen!

 

ÜBERSICHT ALLER STÜCKE

Seid ihr alle da?
Konzeption, Spiel, Regie, Text: Linda Fülle | Text, Regie: Anna Fülle | Regie, Methodische Beratung: Matthias Trautmann, Hans Jochen Menzel

Cry me a baby
Eine Annäherung an die Frage, wie sich Körper begegnen und wie Körper lieben.
Konzept/ Spiel: Liesbeth Nenoff | Regie/ Sound: Charlotte Oeken | Kostüm- und Bühnenbildberatung: Martha Binder | Künstlerische Betreuung: Jan Jedenak | Mentor: Florian Feisel

Fragt mich, was ich werden will und ich sag:
Biografisches Objekttheater mit Kindheitsreliquien und Live-Projektion
Spiel/Video/Konzept: Gala Goebel, Gerda Knoche | Spiel/Regie/Konzept: Helga Lázár | Dramaturgie: Sára Gábor | Künstlerische Betreuung: Stefanie Oberhoff und Stephanie Rinke | Technik: Anne Brüssau | Sounddesign: Johannes Prucsi

Sonst Schoko
Figurentheatrale Erzählung um einen simplen Eiskauf, der zu völligem Chaos führt.
Spiel, Bau, Idee, Konzept: Adeline Rüss | Künstlerische Betreuung: Lutz Großmann | Außenblick: Lara Epp | Mentor: Florian Feisel

Aria e Ossa
Lobtanz der Gegenpole
Konzept und Spiel: Anniek Vetter | Spiel und Musik: Sarah Chaudon | Künstlerische Betreuung: Nicole Mossoux | Beratung Licht und Raum: Joachim Fleischer | Mentorin: Prof. Julika Mayer

Santa Pulcinella
Nach Jahrhunderten des Lachens und der Kämpfe auf dem Marktplatz ist Pulcinella zurück!
Konzeption, Spiel und Bau: Mehdi Pinget | Ton, Außenblick: Marta Pelamatti | mit der künstlerischen Unterstützung von Ariel Doron

Blätter, Dämmerung – Die Esche von Eythra
Musiktheater in Effigie für eine Person im Lehnstuhl
Text: Moritz Schönbrodt | Komposition: Johannes Kürschner | Germanistische Beratung: Wieland Carls, Ulrike Gaebel | Dramaturgische Beratung: Jörg Lehmann, Holger Kuhla | Modellbau: Moritz Schönbrodt | Digitale Beratung: Julian Jungel, Simon Gaebel | Mechanische Hilfe: Ingo Mewes | Hörspielregie: Moritz Schönbrodt | Schnitt: Johannes Kürschner | Mit: Eleonore Freier, Andreas Larraß, Julius Reim, Moritz Schönbrodt | Gesang: Anna-Maria Schmidt

Mycelium
Eine nahrhafte Gemeinschaft
Idee, Konzept, Spiel: Annina Mosimann | Sounddesign und Komposition: Fernando Munizaga | Künstlerische Betreuung und Außenblick: Nicole Mossoux | Künstlerische Mitarbeit: Raquel Mutzenberg-Andrade | Licht / Technik: Lukas Schneider | Mentorin: Julika Mayer

Essensgäste
Über das Beisammensein am Tisch. Ein Spiel mit Suppe, Brot, Nüssen und miteinander
Spiel, Idee, Konzept: Solène Hervé | Spiel, Konzeption: Mehdi Pinget | Künstlerische Betreuung, dramaturgische Unterstützung: Ute Sengebusch | Mentorin: Julika Mayer

8 Minuten Klarheit
Eine Arbeit über das Sich-nicht-Umbringen
Konzept, Spiel und Strick: Franz Schrörs | Musik: Paula Wünsch | Künstlerische Betreuung: Jonas Klinkenberg | Produktionsassistenz: Johanna Posenenske | Supervision: Prof. Stephanie Rinke

 

Titelbild: Dana Ersing

Beautiful Disaster fand statt vom 4. bis zum 16. Oktober 2021

1 Kommentar
Peter Waschinsky
04.11.2021

Westflügel Leipzig: "Beautiful Disaster. Expeditionen ins Junge Figurentheater"

Als ich 25 war, mußte man 50 sein. Als ich 50 war, mußte man 25 sein.
Jetzt bin ich 71.

Vor einiger Zeit geriet ich in einen Wettbewerb für ä l t e re Teilnehmer. Nein, nicht Puppenspiel, sondern Komiker, also nicht mein Kern-Gebiet. Schaffte es aber in die Endrunde.
Mal so als Vorschlag fürs Puppenspiel.

Aber natürlich ist immer noch am Besten, wenn sich Nachwuchs mit Gestandenen mißt statt allzuoft in Jugend-Ghettos an etwas realitätsfernen Maßstäben.

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