Rezensionen

John Bell: Absolut modern. Objekttheater vom Symbolismus bis zum Bauhaus.

Andrea Schmitt rezensiert die Dissertationsschrift eines der führenden Figurentheaterforscher im amerikanischen Raum. In seinem Text beschäftigt sich Bell unter anderem mit dem Einfluss des Figuren- und Objekttheaters auf das Bauhaus.

Wer nach der Lektüre Lust hat, sich weiter mit den Zusammenhängen von Figurentheater, Bauhaus und seinen Schwester-Strömungen zu beschäftigen, sei herzlich eingeladen in der Bibliothek zu stöbern und weitere spannende Lektüren zu diesem Thema zu entdecken! Visuelle Inspiration bietet die Ausstellung Der montierte Mensch, die vom 8. November 2019 bis 15 März 2020 im Museum Folkwang zu sehen ist.

 

John Bells Mechanical ballets: The rediscovery of performing objects on European stages from the 1890s to the 1930s, Columbia University 1993.

Rezension von Andrea Schmitt

 

Was ist modern an modernem Theater? Mit dieser Frage setzt sich der international renommierte US-Amerikanische Theaterhistoriker und Puppenspieler John Bell seit Jahren auseinander. In seiner 1993 veröffentlichten Dissertation stellte er die Entwicklung des avantgardistischen Figuren- und Objekttheaters in Europa zwischen 1890 und 1930 ins Zentrum. Markante Aufführungen und Ereignisse markieren die Eckpunkte dieses vierzigjährigen Untersuchungszeitraums. Dieser beginnt mit Maurice Materlincks symbolistischem „Drei Spiele für Marionetten“ (1891) sowie mit Alfred Jarrys absurdem „Ubu Roy“ (1896). Er endet mit der Schließung des Bauhauses 1933 durch die Nationalsozialisten und dem 1932 von den Stalinisten offiziell verordneten Sozialistischen Realismus.

Zunächst widmet sich Bell den Grundlagen und Voraussetzungen des Figuren- und Objekttheaters, stellt die unterschiedlichen Ausdrucksformen vom Masken-, Marionetten- und Puppenspiel und deren Wirkung vor. In Abgrenzung zum klassischen Sprechtheater definiert Bell das performative Spiel als symbolische Repräsentation. Die historische Voraussetzung für die Theaterexperimente der Moderne sei die Wiederentdeckung des Figurentheaters im Europa des 19. Jahrhunderts. Die Romantiker begannen mit der historischen und anthropologischen Erforschung des Figurentheaters. Sie fanden deren Wurzeln im griechisch-römischen Maskentheater ebenso wie in noch bestehenden folkloristischen Traditionen. Komisch anarchische Figuren wie der Kasper in Deutschland, Guignol in Frankreich, Punch and Judy in England und die Figuren der Commedia dell‘arte in Italien erfuhren in der Romantik eine neue Wertschätzung. Besonders beliebt wurde das traditionelle Marionettentheater. Heinrich von Kleists 1810 erschienene Erzählung Über das Marionettentheater steigerte dessen Bedeutung. Kleists poetische Schilderung der unbewussten Anmut der Marionette und ihrer Überlegenheit gegenüber dem menschlichen Schauspiel inspiriert Künstler*innen und Wissenschaftler*innen bis heute. Ebenso wichtig wie die Wiederentdeckung der eigenen Tradition sei für die Entwicklung des europäischen Objekttheaters die Erforschung animierter Objekte in außereuropäischen Kulturen. Besonderes Interesse galt den asiatischen Spiel- und Theaterformen. Bereits die wissenschaftliche Erforschung und Darstellung all dieser Voraussetzungen für das moderne Theater der Dinge macht Bells Dissertation zur Quelle weiterer Auseinandersetzungen, nicht nur im Bereich der Theaterwissenschaften.

Die historischen und kulturellen Entdeckungen der Romantik fanden Ende des 19. Jahrhunderts Eingang in die antiillusionistischen Theaterexperimente des Symbolismus. Hier beginnt die eigentliche Auseinandersetzung John Bells mit dem Theater der Moderne. Im geheimnisvoll zauberhaften Theater Maeterlincks ebenso wie in Stéphane Malarmés neuartiger Poesie wurde das Objekt zur Metapher. Alfred Jarrys anarchisch absurder Diktator Ubu Roy stieß 1896 das Theater endgültig in die Moderne. Die Aufhebung des Raum-Zeit-Kontinuums und ein anti-illusionistischer Bühnenraum markieren den Beginn einer neuen, radikal a-mimetischen Theaterästhetik. Die Symbolisten des „Fin-de-siècle“ überführten neue wissenschaftliche und technische Erkenntnisse in die Theaterpraxis. Der Bühnenrevolutionär Edward Gordon Craig wendete sich mit künstlicher Beleuchtung und beweglichen, monochrom bemalten Wandschirmen gegen jeden Realismus. In seiner Vision sollten mechanisch agierende, überlebensgroße „Über-Marionetten“ Schauspieler ersetzen. Die antiillusionistischen Theaterinnovationen des Symbolismus bildeten das Fundament für das Theater der Moderne.

1909 sorgte Sergei Diaghilev mit seinen Ballets Russes in Paris für Aufsehen. Ausgehend vom Jugendstil und den glühenden Farbwelten der russischen Kunst fanden die Ballets Russes Eingang in die Hochkultur. Diaghilev entwickelte geometrisch abstrakte Tanzfiguren und beteiligte junge bildende Künstler*innen an den Inszenierungen. So schufen in Paris Pablo Picasso, Georges Braque und zahlreiche weitere Künstler*innen Kostüme, Bühnenbilder und Ausstattung für die Ballets Russes. Viele bildenden Künstler*innen fanden im Theater, besonders im Objekttheater, ideale Ausdrucksformen. Das Theater wurde zu einem Gesamtkunstwerk aus Farbe, Form, Raum, Bewegung und Klang. Die „-Ismen“ der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vom Expressionismus, Kubismus, Surrealismus bis zum Dadaismus fanden auch auf der Bühne statt. Bell bündelt diesen künstlerisch ebenso spannenden wie unübersichtlichen Zeitraum von 1909 bis 1930 und stellt schlaglichtartig Theaterproduktionen aus Paris, Berlin, Zürich und München vor. In München ist es der im russischen Symbolismus verwurzelte Expressionist und spätere Bauhausmeister Wassily Kandinsky. In der ersten Ausgabe seines zusammen mit Franz Marc herausgegebenen Blauen Reiter Almanach veröffentlichte Kandinsky 1912 „Der Gelbe Klang“. Schon in diesem Script werden seine später realisierten synästhetischen Theatervisionen deutlich. Vor der Folie des Ersten Weltkrieges sprengte der Dadaismus mit absurden Performances endgültig die Grenzen der Kleinkunst. Im Röhrenkostüm und mit hohem, hohlem Hut verkündete Hugo Ball 1916 im Züricher Cabaret Voltaire sein erstes Lautgedicht. Er machte sich selbst zum Oberdada, zur Figur, zum Objekt der dadaistischen Nicht-Kunst-Form. Die anarchischen Spiele der Dadaisten rissen in Zürich, Berlin, Hannover und anderswo alle Gattungsgrenzen ein.

Technische Innovationen im Futurismus, Konstruktivismus und Bauhaus stehen anschließend im Zentrum von Bells Untersuchung. Zwar gab es zuvor vereinzelt bewegte Apparaturen auf der Bühne, aber erst der italienische Futurismus erhob die Mechanik mit einem ungebrochenen Fortschrittsglauben zur Kunstform. 1909 veröffentlichte Filippo Tommaso Marinetti das Futuristische Manifest. Die würdevolle und makellose Schönheit der Antike wurde durch neu gesetzte Ideale wie Gefahr, Gewalt und Geschwindigkeit vom Sockel geschlagen. „Ein aufheulendes Auto,…ist schöner als die Nike von Samothrake“, heißt es im Manifest. Mit ungebremster Begeisterung für wilde, chaotische Performances, für Schnelligkeit und mechanische Bewegung, machten die Futuristen die abstrakte Maschine selbst zum Darsteller. Aus Eisen, Stahl und Elektrizität schufen die Futuristen um Fortunato Deppero und Giacomo Balla bewegte Szenen aus rollenden Rädern, scheppernden Stangen und klirrendem Glas. 1922 führten Vinicio Paladini und Ivo Panaggi in Rom futuristisch-mechanische Tänze auf. Tanzende Arbeiter mit eisernen Masken und metallischen Kostümen sollten das Roboterzeitalter verkörperten. In Moskau feierte der russische Konstruktivismus die mechanisch abstrakte Ästhetik. 1913 wurde in Sankt-Petersburg die abstrakt kubofuturistische Oper Sieg über die Sonne von Kasimir Malewitsch, Aleksei Kruchenykh und Michail Matjuschin aufgeführt und führte zu einem handfesten Theaterskandal. Von allen Konventionen befreit, ohne Handlung, Harmonie, Text und Gegenstand ging es um die radikale Erneuerung der russischen Kunst und Kultur. Schauspieler saßen im Publikum, schrien, spuckten und provozierten körperliche Auseinandersetzungen. Zu hören waren Propeller- und Maschinengeräusche. Scheinwerfer beleuchteten nur Teile der geometrischen Kostüme. Beleuchtung, Bühnenbild und Kostüme schuf Kasimir Malewitsch. Der Bühnenvorhang zeigte das „Schwarze Quadrat“, als substanzgewordenes Nichts. Malewitsch schuf später mehrere Gemälde mit dem „Schwarzen Quadrat“, die mittlerweile in den wichtigsten Museen der Welt hängen. Bis heute ist das „Schwarze Quadrat“ ein Schlüsselwerk und eine Ikone der Kunstgeschichte.

Klare Linien, strenge Geometrie, die Begeisterung für neue Materialien und Maschinen kennzeichnete auch die Ästhetik des 1919 gegründeten Bauhauses. Dessen Bühnenwerkstatt war ein Laboratorium für Theaterexperimente aus Licht, Raum, Material und Farbe. Unter der Leitung von Oskar Schlemmer prägte ab 1923 die abstrakte Beziehung von Mensch und Raum die Bauhausbühne. Schlemmers Hauptwerk, das Triadische Ballett, wurde hier kontinuierlich weiterentwickelt und aufgeführt. Maskierte Tänzer steckten in starren Kostümen, die aus den geometrischen Grundformen Kreis, Dreieck und Quadrat zusammengesetzt waren. Allein Licht und Schatten setzten die Tanzfiguren vor dem schwarzen Bühnenraum in Szene. Materialien wie Metall und Glas waren wesentliche Kostüm- und Bühnenelemente. Sie fanden auch Eingang in die berühmten Bauhausfeste, wie das „Metallische Fest 1929“.

All diese Neuerungen machten das Moderne am modernen Theater aus. Bell nutzt für seine Deskription den kunsthistorischen Epochenbegriff der „Klassischen Moderne“, der die „-Ismen“ der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vom Expressionismus, Kubismus, Dadaismus, Surrealismus, Futurismus und Konstruktivismus bis zum Bauhaus umfasst. Analog zur bildenden Kunst jener Zeit kennzeichnete der Verzicht auf realistische Darstellung, auf eine kontingente Erzählung und auf historische Stoffe auch das moderne Theater. Stattdessen standen expressive, absurde, abstrakte und technische Ausdrucksformen im Mittelpunkt. Die politische Zeitenwende der 1930er Jahre beendete die Kunst der Klassischen Moderne. Der Nationalsozialismus in Deutschland, der Stalinismus in Russland und ebenso der Faschismus in Italien duldeten keine avantgardistische Kunst. Künstler wurden verfolgt, inhaftiert, sogar getötet. Die nationalsozialistische Propagandaausstellung „Entartete Kunst“ 1937 in München verfemte die Kunst vom Expressionismus bis zum Bauhaus als krank, abnorm und scheußlich. Doch was macht moderne Kunst bis heute so gefährlich für totalitäre Systeme? Sie lässt sich nicht einordnen, beherrschen und instrumentalisieren. Abstrakte Kunst sperrt sich gegen eindeutige Aussagen und Interpretationen. Kunstexperimente machen sich lustig, wagen das Unerwartete, Verbotene und Absurde. Das ist ungeheuerlich für Systeme, die auf die Beherrschung der Gedanken, deren Unterdrückung, und des Tuns ausgelegt sind. Deshalb zeichnet die Freiheit der Kunst eine freiheitliche Gesellschaft aus.

Im Vergleich zum klassischen Schauspiel sind die experimentellen, a-mimetischen Ausdrucksmittel der Moderne im Figuren- und Objekttheater sehr viel leichter umzusetzen. Es ist daher naheliegend, dass bis heute bildende Künstler*innen ihre Visionen im Figuren- und Objekttheater realisieren. Doch Bells 1993 erschienene Dissertation endet, bevor der Bogen zu zeitgenössischen Inszenierungen gezogen wird. In seinem Fazit beschreibt Bell kurz, wie in seiner unmittelbaren New Yorker Umgebung Künstler*inneninnen in den 1980er und 1990er Jahren Ausdrucksmittel der klassischen Moderne für Theaterexperimente nutzten. Ihnen seien jedoch deren avantgardistische Wurzeln nahezu unbekannt. Ein junger Bühnen- und Maskenbauer habe sich aber sehr interessiert gezeigt, als er ihm von einer Rekonstruktion der Inszenierung Sieg über die Sonne erzählt habe. In den Theatervisionen Robert Wilsons, Robert Lepages oder William Kentridges finden sich zahlreiche Elemente, die auf die Avantgarden des 20. Jahrhunderts verweisen. Das Wissen um diese Parallelen wäre sicher nicht nur für den Zuschauer, sondern auch für Spieler*innen inspirierend.

Eine umfassende und detaillierte Analyse des Einflusses der Theater- und Bühnenexperimente der klassischen Moderne auf zeitgenössische Theaterformen steht noch aus. John Bells Dissertation kann hierfür eine Grundlage sein. Sein beeindruckend breit angelegter wissenschaftlicher Apparat vermag seine Thesen nicht nur überzeugend zu belegen, sondern bietet Grundlagen für weitere wissenschaftliche Auseinandersetzungen. Im Anhang seiner Dissertation listet Bell alle Theaterereignisse des Europäischen Figuren- und Objekttheaters von 1890 bis 1939 chronologisch auf. Jede*r Theaterwissenschaftler*in findet hier einen reichen Fundus an Themen und Anregungen für eine weiterführende interdisziplinäre Theaterforschung.

 

Von Andrea Schmidt

 

Fotos:

Im Rahmen der Ausstellungsreihe Bauhaus am Folkwang widmete das Essener Museum Folkwang der Bauhausbühne vom 28. April – 8. September 2019 die Ausstellung Bühnenwelten. Die Fotographie von Marianne Brandt wurde in diesem Rahmen ausgestellt und uns freundlicherweise vom Museum Folkwang zur Verfügung gestellt. https://www.museum-folkwang.de/nl/aktuelles/ausstellungen/aktuell/bauhaus-am-folkwang-buehnenwelten.html
 
Marianne Brandt
Selbstportrait mit Schmuck zum Metallischen Fest, Februar 1929, Reprint 1993, Museum Folkwang, Essen,
© VG Bild-Kunst, Bonn 2019
 
Oskar Schlemmer
Oskar Schlemmer in einer Selbstinszenierung für die Mappe "9 jahre bauhaus. eine chronik" (Abschiedsgeschenk der Bauhäusler für Walter Gropius), Fotograf: unbekannt, um 1928. Quelle: https://www.bauhaus100.de/das-bauhaus/koepfe/meister-und-lehrende/oskar-schlemmer/ (Letzter Abruf: 16.10.2019