Young Writers

Carte Blanche - Das Leben selbst ist Kunst!

Von Maja Hoffmann

In Carte Blanche werden zentrale Lebensthemen wie Familie, Identität und Abschied behandelt. Meist so abstrakt, humoristisch, unverblümt, quirlig und chaotisch, dass die Form der Darstellung an einen überfordernden Familienalltag erinnert, ja schlicht an das Leben selbst, an die Umwege und Überraschungen der Identitätsfindung. Die Künstlerin malt mit den Bedingungen und Farben des Lebens - Das Ergebnis ist ein poetisches und philosophisches Portrait.

Carte Blanche. Collage. Chaos. Carte Blanche ist ein Begriff für eine uneingeschränkte Vollmacht, wörtlich übersetzt bedeutet es aber auch leere, weiße Seite. Können wir, verstrickt in Mustern der Familie, Prägung und Sozialisierung, jemals ein unbeschriebenes Blatt sein? Können wir Dinge auf diesem Blatt wegradieren? Geben wir unserer Herkunft und Familie diese uneingeschränkte Vollmacht über uns und das, was wir sind? Wer sind wir, unabhängig von Familie, und wer sind wir, abhängig und verbunden mit ihr und allem, was zu ihr dazugehört, wie es auch Abschiede und Differenzen tun? Exemplarisch für diese Erkundung steht allein schon der Name der Inszenierung von Michal Svironi, die uns diese Carte Blanche bemalen lässt mit Versuchen der Antwort auf die Frage, was unsere Identität ausmacht.

„Seit mindestens 80 Jahren gibt es in meiner Familie keine Verabschiedungen mehr. Alle verschwinden. Tief in mir steckt der Glaube, dass wir uns eines Tages treffen und uns richtig voneinander verabschieden werden.“ (Michal Svironi)

Die Erkundung dieser Formen des Verabschiedens und die individuelle Auseinandersetzung von Svironi mit den Themen Abschied und Tod werden zum Leitmotiv ihrer Performance, sie verbindet diese Themen mit Aspekten der Familie und Identität, da sie alle wie ein Konstrukt miteinander verwoben sind, wie ein fragiles und komplexes Spinnennetz, das zeigt, inwieweit das eine Thema das andere tangieren, beeinflussen, stören kann. Die Künstlerin resümiert schon mitten in der Inszenierung die Erkenntnis „Family is the only thing that remains, streut Ansätze von Antworten und Überlegungen in ihre Performance ein, die sie wie eine Detektivin auf der Suche nach Indizien wirken lassen, sie scheint überlegend und reflektierend, erprobt aber auch gleichzeitig künstlerisch und wie ein Kind, das sich dabei wie auf einem Spielplatz austobt. Die kindliche Perspektive im Kontrast zur erwachsenen ist ein Dualismus, mit dem Svironi spielt, und der unterschiedliche Perspektiven auf das Leben aufzeigt. Sie selbst inszeniert sich in einem Zwischenraum, ist selbst manchmal das noch unwissende, verlorene, sich Fragen fragende Kind, ist Tochter ihres Vaters, und gleichzeitig Mutter ihrer Tochter und Erwachsene.

Svironi wirft gleich zu Beginn existenzielle Fragen auf: Wohin gehen tote Menschen? Dabei verdeutlicht sie ihre eigene Machtlosigkeit bezüglich solcher Fragen, die niemand beantworten kann: Statt Logik zeigt sie uns ein Panorama an Gefühlen, Erlebnissen und Gedanken aus ihrem Leben und ihrem Kopf: Sie entwirft Szenarien, stellt sich vor, wie sie als Kind nach einem langen, heißen Tag nach Hause kommt und ihre beiden Omas sie mit einer Umarmung empfangen. Doch das wird niemals passieren, da sie tot sind. Sie erzählt auch humoristisch von einer absurden Situation zwischen ihrer Tochter und dem Vater ihrer Tochter, der ihr sagte, dass er niemals sterben werde, da er gerade eine Impfung gegen den Tod entwickle. Fast schon gewollt poetisch wirft die Künstlerin an anderer Stelle glitzernden roten Staub in die Luft und sagt, dass nach dem Tod aus uns allen Sternenstaub werden wird. Mit all diesen unmittelbaren Aktionen oder Erzählungen, deren Sinn nicht sofort greifbar oder zur Einordnung bereit ist, da sie einfach Kunst sind, findet eine kollektive Beschäftigung mit dem Tod und seine vielfältige Thematisierung statt, der Tod wird einfach wahrgenommen und gestaltet statt bekämpft oder mit Negativem aufgeladen.

Svironi inszeniert ein letztes Gespräch mit dem sterbenden Vater, der ihr sagt, dass sie eine bestimmte Sache nicht vergessen soll. Der sterbende Vater stockt jedoch in seinem letzten Satz, spricht das Wichtige nie aus. So wird aufgezeigt, dass nicht immer eine Lösung gefunden werden kann, es nicht immer eine Antwort auf alles gibt, nicht immer ein allgemeingültiges Wissen oder eine Übereinkunft, auch das wird als Eigenschaft des Todes und Antwort auf ihn deutlich. Nicht alles kann ein harmonisches, perfektes Ende finden, das Happy End mit Versöhnung, letzten rührenden, liebevollen Worten ist oftmals eine Illusion. Folgendes Szenario gegen die Unvermeidbarkeit des Todes wird nacherzählt: Die Tochter der Darstellerin wünscht sich eine Zeitmaschine, damit sie Tote wiedersehen kann. Die naive, unschuldige Weltsicht eines Kindes wird zum Ausdruck einer Nostalgie und Sehnsucht nach dem Unmöglichen, das alles Vorstellbare umsetzbar macht, so wie es in kindlichen Gedanken gegeben ist: Jede Idee, jede einem tiefen Gefühl entspringende Vorstellung von Realität wird zur Wahrheit, und so liegt hierin für mich die Weisheit, dass Tote nie ganz tot sind, da sie im Herzen, in Gedanken, in der Erinnerung, in Wünschen, in kindlicher Unwissenheit und im Vermissen weiterleben.

Neben dem Themenkomplex des Todes ist mit ihm die Erkundung der Themen Identität, Körper, Familie, Verwandtschaft verbunden, die Svironi ebenso abstrakt, künstlerisch und experimentell vollzieht. In ihrer performativen Inszenierung, in der sie stets auch als bildende Künstlerin fungiert, bleiben durch jene experimentellen und abstrakten Darlegungen von Versuchen einer Greifbarkeit von Prozessen des Lebens, der Identität und Familie auch stets Leerstellen, die der*die Rezipient*in mit seinem ganz eigenen Horizont und Weltbild füllen kann. Die Endlichkeit und Zerbrechlichkeit des menschlichen Körpers wird gleich zu Beginn aufgegriffen: Die Künstlerin hält eine Leinwand als ihren bemalbaren, formbaren Körper vor sich und malt ihre Lunge, ihre Organe, ihr inneres, verwobenes, komplexes System. Sie betont dabei, dass der menschliche Körper sehr fragil und zerbrechlich sei, nur ein kleiner Fehler könne alles zerstören. Ein fragiles Konstrukt mit sexy Hülle, das sei ihr Körper, inzwischen auch mit Brüsten bemalt. Als sie davon erzählt, auch mal klein und unschuldig gewesen zu sein, wischt sie sie wieder weg, und erinnert wie auch später oft wieder an den Dualismus zwischen jung und naiv und alt und wissend, erinnert uns im gleichen Atemzug auch an unsere Herkunft, unsere Vergangenheit, unsere Wurzeln, die Strecke und Reise, die wir im Leben zurückgelegt haben, fasziniert durch offensichtliche Fakten, die wir uns aber viel zu selten in Erinnerung rufen: Wir alle waren mal ein Embryo, waren jünger, waren kleiner, unwissender, naiver.

Svironi malt ein Selbstportrait sowie ein Porträt ihrer Mutter und greift das zentrale Motiv der Familie wieder auf, sie drückt die Realisation der Verwandtschaft aus und was sie bedeutet: Sie und ihre Mutter haben die gleichen Augen, die gleichen Ohren, die gleichen Nasen, das gleiche Herz und viel mehr, so viele gleiche Merkmale, beide weinen oft. Svironi schaukelt die Portraits von sich und ihrer Mutter, zeigt eine Auf-und-ab-Dynamik zweier Individuen nebeneinander, die sich aufs Leben übertragen lassen könnte. Auf zwei kreisrunden Tafeln zeigt sie weitere gemalte Porträts von sich und von ihrer Tochter, diese Kreise dreht sie, sodass sie ins Rollen kommen. Ein Rollen mit einhergehendem Schwindel und hoher Geschwindigkeit, die das sonst im Stilleben und Ruhezustand dargestellte Gesicht verwischt und in Bewegung bringt. In jeder vollzogenen Tat lassen sich Interpretationsansätze finden, wenn man sie suchen möchte. Das runde Porträt ihrer Tochter wird als Stempel benutzt, immer wieder auf den Boden gestampft, es ist dabei gleichzeitig eine Imitation kindlichen Hüpfens, und ein kindliches Jammern und Ächzen ist hörbar. Beim Porträt der Tochter fällt auf, dass sich die Augen öffnen und verschließen lassen. Manches scheint noch nicht für ihre Augen bestimmt oder wahrnehmbar, wenn Svironi die Augen nach unten klappt. Das Stempeln ihres Gesichts in vielfacher Auslegung geschieht auf einem langen Stück weißem Papier, was die Künstlerin anschließend um sich herumwickelt. Als Mutter zeigt sie für mich so, dass sie alle Gesichter und Seiten ihrer Tochter in vielfältiger Ausprägung akzeptieren und mit ihnen umgehen können muss. Später schneidet Svironi einen roten Faden, der auf der Bühne als eine Art Gerüst fungiert, durch. Die Portraits werden nicht vom Faden gehalten und behalten ihren Platz, und doch schienen sie durch diesen Faden optisch verbunden gewesen zu sein. Beide Individuen können weiterhin für sich stehend existieren, behalten ihren Platz in der Welt, und doch wird ein Akt der Trennung der Verbindung oder der Verbundenheit zwischen Mutter und Tochter demonstriert, eine Abnabelung, ein Schaffen getrennter Räume des Existierens. 

Es wirkt, als erkunde Svironi Familienverhältnisse und Probleme innerhalb eines sozialen Konstruktes, das in seiner Beschaffenheit versucht wird, materiell darzustellen. Was das Familienkonstrukt mitgeben kann, thematisiert Svironi, indem sie berichtet, das Malen von ihrem Vater gelernt zu haben, hier also die zentrale Form ihres Ausdrucks. Aber auch, inwiefern das Konstrukt bröckelt, nicht genug Stabilität hat, wo in ihm Reibung durch Differenz entsteht, ist Thema. So auch gravierende Probleme, zunächst normal und wie beiläufig: Svironi kritisiert an ihren Eltern, dass sie z.B. ihr Künstlerdasein nicht gutheißen oder Homosexuelle ablehnen. Bei jedem ausgesprochenen Kritikpunkt sprüht sie Wasser auf ein Porträt ihres Vaters, zuvor werden die immer tränenden Augen des Vaters thematisiert und seine Tränen werden gemalt. Es ist, als wolle Svironi durch die Kritik und mit dem Aufsprühen des Wassers so etwas tun wie Öl ins Feuer gießen, das Porträt verschlimmern oder ruinieren und somit zerstörerische Eigenschaften einer Identität aufzeigen. Sie greift danach die schmerzliche Erfahrung von Zeit auf und nutzt das Wasser dabei als Element der Verwischung einer Person: Dass es nicht einfach sei, zu sehen, wie die Eltern älter werden, sagt sie. Sie beobachtet die Spuren der Zeit bei ihrem Vater und malt sie als Linien, verwischt das Porträt mit der Vermischung seiner Farben und der hinzugefügten Nässe vom Wasser, sodass nur noch farbliches Rauschen ohne Konturen erkennbar ist. Die Vergänglichkeit einer Identität, die nicht für immer in festen und wahrnehmbaren Formen festzuhalten ist, wird so verdeutlicht. Anschließend sticht sie ein Loch ins Porträt des Vaters und die daraus entstehende Klappe wird zu einem Mund, der spricht, das Porträt verlebendigt sich und wird zur eigenen Figur. So führt Svironi einen Dialog mit ihrem Vater. Dann fischt sie eine lange Liste aus dem Mund des Porträts, eine Liste ihres Vaters, was sie alles können und beachten soll, zum Beispiel gut Fisch kochen können, gut Schnitzel kochen können, gut Hühnchen kochen können. Diese Auflistung wirkt wie eine Kritik am Stereotyp, dass Frauen gut kochen können sollten und sich einen vernünftigen Mann suchen müssen, wie auch der Vater Svironis es möchte. Sie stellt die Frage: „What are you going to do with the list when there’s nothing left to do?“ Und spricht damit eine gewisse existenzielle Sinnsuche an.

Grundlegende Fragen klingen im Subtext an: Was bin ich für ein Individuum außerhalb meiner Familie, ohne den Einfluss und die Erziehung meiner Familie, welche Ziele verfolge ich unabhängig von meiner Familie? Muss ich im Leben eine Liste abarbeiten, Fremderwartungen erfüllen? Kann ich ohne solche Listen und wirklich frei leben, im Vakuum, wo nur ich existiere? Wohl kaum. Doch das nie vollständige Loslösen von sozialen und normkonformen Gefängnissen, der Kampf mit den familiären Wünschen, Problemen, Prägungen sowie der damit einhergehende Druck und die Erwartungen werden verdeutlicht, indem die Darstellerin mit der enormen Länge der Liste kämpft, die ein Wirrwarr auslöst, sich unbändig um den Körper schlängelt und sich dort verfängt. Doch auch ein Versuch, die Liste wieder zurück in den Mund des Vaters zu stopfen oder aufzurollen ist sichtbar. Ein Dualismus wird aufgezeigt zwischen Fremdbestimmung und dem Versuch des Ausbrechens aus Erwartungen, ein Kämpfen und Ringen und sich Verfangen in ihnen. Jedoch ist alles in der Inszenierung von Svironi mehr komödiantisch dargestellt statt tragisch und ernst. Dies wirkt für mich wie ein Versuch, die Ernsthaftigkeit von familiären Problemen und Verstrickungen zu bewältigen, indem man versucht, die Familie, die man hat, zu akzeptieren und das Beste draus zu machen. Die Wurzeln nicht zu vergessen, und trotzdem eigene Wege zu gehen. Keinen Groll zu hegen, sondern über Differenzen und Absurditäten auch mal lachen zu können, sich durch Leichtigkeit ein wenig zu befreien und zu entspannen, das Leben nicht zu ernst zu nehmen.

Zum Ende hin werden wir Zeugen davon, wie die Darstellerin vor einer Leinwand sitzt, aus der eine kleine Puppe entnommen wird, die in die Leinwand wie eingeschnitten in eine Form ist. Eine kleine Puppe ihrer selbst? Ihres jüngeren, kleineren, zarten, verletzlichen, unschuldigen Ichs? Sie interagiert mit dieser Puppe, umarmt sie, lässt sie in der Luft schweben. Es wirkt wie eine Versöhnung mit sich selbst, mit dem jüngeren Selbst vielleicht, ein Trösten und Wahrnehmen dieses jüngeren Ichs.

Zuletzt wird das von Svironi zuvor erkundete Bild der bedingungslosen Verbundenheit mit der Familie oder allen Menschen im Allgemeinen berührend sichtbar, die Verbundenheit wirkt wie eine abschließende Definition oder Feststellung des menschlichen Seins: Egal ob Differenzen wie der Tod oder andere Meinungen und Erwartungen der Eltern zur Separation führen, wir alle existieren nicht singulär, sondern im Miteinander, hieraus ergibt sich erst unsere Individualität und Stellung in der Welt, im Konstrukt, das Svironi als letzten Akt wie ein Standbild entwirft: Sie zieht an vielen Fäden, die sie in den Händen hält, die wiederum bewirken, dass sich viele kleine Figuren am Boden aufstellen und sichtbar werden. Es sind große sowie kleine Figuren, die alle durch die Fäden miteinander verbunden sind, die in ihrer Vielfalt und Menge stark und vereint wie eine Armee wirken. Hinter Svironi ist auf einer Leinwand ein Baum zu sehen mit tausend kleinen, filigranen Abzweigungen und Linien, die alle in unterschiedliche Richtungen sprießen, aber dennoch dem gleichen Stamm entspringen. Alle Familienmitglieder sind also miteinander verbunden durch die gleiche Herkunft, ob sie wollen oder nicht. Es kann ein Fluch sein oder ein Segen, ein Hindernis oder eine Chance. Die Herkunft ist das Fundament und der Anker, doch muss sie nicht das Baumaterial sein für Zukünftiges oder ein Gewicht, das fesselt. Svironi bemalt den Baum rot. Eine ambivalente Farbe in dieser Inszenierung. Sie strahlt Kraft und Energie und Leidenschaft aus, ist Farbe der Liebe, des gleichen Blutes, das Familien verbindet, aber auch der Gefahr, des Risikos, der Wut.

 

Foto: Gerard Alon

 

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