Westflügel Leipzig: "FIGURE IT OUT!"
24. Juni 2025
Eine halbe Erdkugel bewegt sich nach oben. Von Nebelschwaden umgeben schwebt ein Lampenschirm, auf dem die Konturen der Kontinente markiert sind, durch die Lüfte. Er steigt höher und höher, scheinbar erhoben durch die Klänge, die dem Akkordeon von Robert Jurčo entweichen. Das war einer der magischen Momente der diesjährigen Ausgabe des Festivals „Figure it Out“ des Figurentheaterzentrums Westflügel in Leipzig. Die Erdhalbkugel, die durch die Klänge des Akkordeons zum Fliegen gebracht wurde, stellte nur einen Vorgeschmack auf die Kräfte dar, die die polnische Grupa Coincidentia in gemeinsamer Arbeit mit dem Puppenspielduo Wilde & Vogel in „Superheroes“ freisetzten. Im Laufe des Abends tauchten dort noch die Sympathie-Berserker Asterix und Obelix, aber auch Batman und dessen Gegenspieler Joker sowie die Düstergestalt Lord Voldemort aus der Harry Potter-Galaxie auf. Voldemorts düsterer Kraft, die sich aus dem Hang zum Alleinsein speist, setzten Pawel Chomczyk und seine Partnerin Dagmara Sowa und Musiker Jurčo die Stärke, die sich aus dem Miteinander speist, entgegen.
Golden Delicious: "À la carte" © Golden Delicious
Imaginierte Objekte in „À la carte“
Magische Momente ganz anderer Art erzeugte Ingbal Yomtovian von der israelisch-französischen Kompanie Golden Delicious. In ihrer Soloproduktion „À la carte“ ließ sie im Publikum eine Karte verteilen, auf der die Umrisse aller Objekte abgebildet und mit Zahlen versehen waren, die sich an einem bestimmten Tag auf ihrem Tisch befunden hatten. Ein Laptop war darunter, ein Notizheft, aber auch Schlüssel, Werzeuge und Musikinstrumente. Nannten Zuschauer*innen eine Zahl, erzählte Yomtovian die mit dem Objekt verbundene Geschichte. Die Schlüssel etwa führten einst in ein Haus der Großeltern der Performerin. Es existiert schon lange nicht mehr. Aufgrund der Erzählungen in „À la carte“ erstand es aber vor dem inneren Auge von vielen Zuhörenden.
Yomtovian berichtete auch von der Plantage von Zitrusfrüchten, die einst ihrem Vater gehörte und auf der viele Jahre lang palästinensische Arbeiter*innen tätig waren. Mit der Hamas-Attacke vom 7. Oktober wurden letztere aber als Feinde deklariert. Sie können nicht mehr über die Grenze nach Israel einreisen und verloren ihre Arbeit. Ob und wann sich die alte Situation wieder herstellen könnte, ist fraglich. Denn das Erntehelfersystem hat sich komplett geändert, erzählte Yomtovian später fidena.de. Anstelle der palästinensischen Arbeiter*innen würden verstärkt Arbeitsmigrant*innen aus Pakistan und anderen Ländern Asiens eingesetzt. „À la carte“ begann als privat wirkendes und sehr simples Spiel. Und doch gelangte man sehr schnell mitten hinein in die Weltpolitik, in die verstörenden Kriegsszenarien an vielen Orten des Globus.
Netzwerkprogramm: Morning Session © Dana Ersing
Kunst und internationale Zusammenarbeit in Konfliktzeiten
Die Frage danach, wie Kunst, wie internationale künstlerische Zusammenarbeit in Zeiten von Polarisierung und kriegerischer Konfrontation überhaupt noch möglich ist, beschäftigte dann auch das Symposium, das mit dem Festival verbunden war. Arbeitsgruppen beschäftigten sich mit der Zukunft des Internationalen Programmierens – weiter gegenseitig einladen trotz schrumpfender Mittel war die Kernerkenntnis - und der Notwendigkeit, öffentliche Begegnungsorte aufrecht zu erhalten. Dabei ging es auch um eine Balance zwischen geschützten Orten für Minoritätsgesellschaften und der Etablierung von Regeln für das Aushalten konfligierender Haltungen und Perspektiven bei gleichzeitigem Minimalkonsens auf Einhaltung fundamentaler Menschenrechte.
Als pragmatische Handlungsanweisung für Künstler*innen schlug Paweł Chomczyk vor: „Der eigenen Phantasie vertrauen und einfach weiter machen.“ Er hat mit Dagmara Sowa in einem Wald im Osten Polens, ganz nahe der Grenze zu Belarus, das Kunstzentrum Solniki 44 aufgebaut. Und hier im Wald, umgeben vom Gesang der Vögel, so nahe aber auch an einer der europäischen Konfliktzonen der Gegenwart, dass deutschen Besuchern schon mal die Reisewarnungen des Auswärtigen Amts in die Mobilgeräte platzten, vertrauen Chomczyk und Sowa eben der Kraft ihrer Fantasie. Befragt danach, welche Superkraft er sich wünschen würde, um die gegenwärtigen Konflikte zu entschärfen und den Sinn für ein Miteinander und ein gemeinsames Wohlbefinden zu stärken, nannte er „die Fähigkeit, Erinnerungen auszulöschen“. Denn die Erinnerungen, das Anhaften an Demütigungen und Triumphen der Vergangenheit sei ein Grund für das immer wieder neue Aufflammen von Feindschaften, für die Konstruktion von Ausgrenzungen und das Schwelgen in Vernichtungsfantasien. Für Künste wie eben die Darstellenden Künste, die ja mit Narrativen und damit auch mit Erinnerungsfetzen operieren, stellt das eine besondere Herausforderung dar.
Carrignon, Deville, Templeraud, Castaing, Lemoine, Lopez, Limbos, Molnàr, Bettini: "The real fake object theater conference" © Laurène Thébault/VéloTheatre
Legendentreffen „The real fake object theater conference“
Einen Weg, wie dies gelingen könnte, zeigte schließlich die mit Spannung erwartete „real fake object theater conference“ auf, bei der acht Granden des Objekttheaters das erste Mal in dieser Konstellation gemeinsam auf der Bühne agierten. Gyula Molnàr etwa, legendär geworden durch seine „Drei kleinen Selbstmorde“, plädierte sehr konzentriert für den leeren Raum und entfernte deshalb auch den Stuhl, den Kollege Christian Carrignon vom Théâtre de Cuisine zuvor zentral auf der Bühne platziert hatte. Charlot Lemoine vom Vélo Théâtre verwandelte wiederum menschliche Darsteller auf Stühlen mittels Tafel, Schwamm und Kreide in zweidimensionale Zeichen, die er dank des Spiels mit Worten und akustischen Interventionen zu (re-)animieren wusste. An „The real fake object theater conference“ nahmen weiterhin Katy Deville (Théâtre de Cuisine), Jacques Templeraud (Théâtre Manarf), Tania Castaing und José Lopez (Vélo Théâtre), Agnès Limbos (Gare Centrale) und Francesca Bettini teil. Die Show stellte eine Übung im Entleeren dar, in der Konzentration auf nur wenige Elemente und dem Erkunden der Möglichkeiten, die im Umgang mit ihnen stecken. Molnàr, Lemoine, Limbos & Co kreierten einen Raum des freien Assoziierens, der einerseits geschützt, andererseits aber offen in viele Richtungen war.
FIGURE IT OUT!
Internationales Treffen für Figurentheater & Showcase
18. - 22. Juni 2025
Infos auf der Website vom Westflügel Leipzig
Besprochene Produktionen:
Superheroes von Grupa Coincidentia [Polen], Wilde & Vogel [Deutschland] | À la carte von Golden Delicious, [Frankreich/Israel] | The real fake object theater conference von Christian Carrignon und Katy Deville (Théâtre de Cuisine), Jacques Templeraud (Théâtre Manarf), Tania Castaing, Charlot Lemoine und José Lopez (Vélo Théâtre), Agnès Limbos (Gare Centrale), Gyula Molnàr und Francesca Bettini [Belgien, Frankreich, Italien]
Titelbild: Grupa Coincidentia, Wilde & Vogel: "Superheroes" © Joanna Krukowska