Scaena Corpus: Maß nehmen, aber mit neuen Maßstäben
Schon bevor die Aufführung überhaupt begonnen hat, wird mein zerrissenes und wieder zusammengeklebtes Ticket zum Symbol von Zerbrechlichkeit und Unperfektheit. Aus der Dunkelheit heraus ist dann eine Audiospur zu hören, deren Stimme sagt, dass nicht jeder glaubt, mit seiner Figur fürs Theater geeignet zu sein, da Schauspieler oft wie halbe Athleten seien und die perfekte Figur hätten, man selbst aber von diesem Idealbild abweiche.
Verschiedene Handlungen werden an einer kleinen Puppe im Hintergrund, verdeckt von einem Vorhang, vorgenommen. Diese Puppe kann, wie Schneider selbst im Nachgespräch betont, als sein „Mini Me“ gesehen werden, das noch nicht bereit war, seinen Körper und auch seine Queerness zu akzeptieren. Die Queerness wird der eigenen Körpererfahrung eingehaucht, indem der Puppe ein Kleid angezogen wird, kurz danach kommt auch Lukas Schneider im Kleid und mit Highheels auf die Bühne und singt im Opernstil. Dass Schneider noch nicht bereit war, als Kind die eigene Queerness zu erkennen und anzunehmen, wird an der kleinen Puppe verdeutlicht, die das Kleid wieder auszieht, wegschmeißt und sagt: „Let me freeze again.“ Davor werden diverse andere körpererkundende Handlungen vorgenommen: der Körper der Puppe wird mit einem Maßband ausgemessen, die Puppe betrachtet und erkundet sich selbst im Spiegel, ihre Körperteile werden bewegt.
Nachdem Schneider sein Opern-Intermezzo beendet hat, wird er zum „Körperdealer“: Er öffnet seinen Mantel, an der Innenseite sind viele kleine Körper angebracht. Er nimmt sie nacheinander ab, streckt sie Menschen im Publikum entgegen, lässt sie tanzen, sich bewegen, sich selbst inszenieren und anbieten, schüttelt dann im letzten Moment jedoch den Kopf und schmeißt sie hinter sich. Für mich eröffnet dies eine Art der Perspektive, dass kaum ein Körper perfekt sein kann, immer einen Mangel oder ein Manko haben wird, man wird nie jedem gefallen können, sollte den Körper nicht als Ware, nicht als zum Verkauf oder zur Verhandlung stehendes Produkt behandeln.
Durch eine Audiospur werden männliche Schönheitsideale immer wieder nacheinander aufgezählt und abgerackert wie in einem ermüdenden Marathon: alle körperlichen Merkmale, wie ein kleiner, knackiger Po, straffe Oberschenkel, muskulöse Schultern und Oberarme etc., werden zunächst an der Puppe an entsprechenden Stellen angezeigt, indem sie sich dort selbst berührt. Je öfter alles gesagt wird, desto müder wird die Puppe jedoch, gähnt schließlich, während sie versucht, die Audiospur noch weiterzusprechen, und schläft dann ein. Sich all jene Ideale ständig vor Augen zu führen, ständig mit ihnen konfrontiert zu werden und sich mit ihnen zu vergleichen, raubt wie hier sichtbar nur Energie, lähmt uns.
Schneider tanzt mit einer Puppe, die größer als er selbst ist, zwischendurch fällt die Puppe vor ihm nieder auf die Knie. Nach und nach holt Schneider die Wattefüllung der Puppe heraus, bis sie fast komplett leer und nur noch Haut, nur noch eine Hülle, leicht wie eine Feder ist, so wird sie dann von Lukas Schneider in der Luft herumgewirbelt, bis sie fallen gelassen wird. Die kleine Puppe wird dann auf einem kleinen durchsichtigen Glas nachgezeichnet, woraufhin sie hysterisch anfängt zu lachen und ruft: „Wer ist das denn, das ist ja ne fette Sau!“ Die oft selbstverständliche extreme Selbstabwertung wird als genauso schlimm ersichtlich, wie wenn ein solcher Satz zu jemand anderem gesagt werden würde. Wie wir mit uns selbst umgehen und sprechen, formt unsere Selbstwahrnehmung, die Liebe und Akzeptanz, die wir uns selbst entgegenbringen müssen, der durch diese Form des Selbsthasses jedoch keine Entfaltung möglich ist.
Mithilfe des Publikums wird das perfekte Gesicht gezeichnet, Lukas Schneider pickt sich einzelne Zuschauer*innen heraus und zeichnet nach und nach alle für ihn perfekten Merkmale. Von mir nimmt er sich die Nase und sagt, ich habe die perfekte Nase. Ich lächle verlegen und frage mich, inwiefern ich das ernst nehmen soll, ob er nur willkürlich Leute auswählt und eigentlich jede*r genommen werden könnte, da jede*r perfekt ist. Die Bedeutung des Wortes „perfekt“ wird in diesem Kontext ganz neu hinterfragt, das Wort wirkt auf mich wie ein Ausdruck von Neutralität, und überhaupt ist „perfekt“ immer Ansichtssache, so wie auch Äußerliches und Schönheit im Auge des*der Betrachtenden liegen. Nachdem das perfekte Gesicht als Porträt auf dem Glas steht, und auch ein „perfekter“ Männerkörper mit muskulösen Oberarmen und einem Sixpack auf ein Glas gemalt wurde, wird das Porträt der Puppe mit etwas dickerem Bauch verwischt und das Lachen im Hintergrund ertönt wieder. Die Diskrepanz in von Normen geprägten Wahrnehmungen von Körpern wird wahrnehmbar, die Selbstkritik, das Auslachen und Verachten seiner selbst, doch es wird als identitätsverwischend, hässlich, zerstörerisch, unnötig, viel zu laut inszeniert.
Schneider nimmt einen Spiegel, zieht sich aus und stellt sich davor, betrachtet sich. Eine Audiospur ertönt erneut, die betont, dass man es gewohnt sei, durchtrainierte Körper auf der Leinwand zu sehen, und dass man meist nicht einfach so vor dem Spiegel stehen kann, ohne sich zu bewegen, da man z.B. sofort anfängt, den Bauch einzuziehen oder ähnliches. Man soll mal versuchen, einfach nur dazustehen, sich nicht zu bewegen, einfach zu akzeptieren, was man sieht, ohne zu verurteilen. Dann nimmt Schneider den flexiblen Spiegel, biegt ihn, bewegt ihn hin und her sodass er sich unterschiedlich krümmt, bewegt sich mit ihm und tanzt mit ihm. Es wirkt auf mich wie eine Versöhnung mit sich selbst, wie eine Selbstakzeptanz. Dann fällt er mit dem Spiegel hin. Auf dem Boden hält er den Spiegel hoch und streckt ihm dem Publikum hin, sodass es sich selbst im Spiegel sieht. Applaus wird eingespielt. Wie hier wird in der Inszenierung Schneiders immer wieder deutlich, dass alle Körper den gleichen Respekt verdienen und Leistung erbringen, dass Schönheit und Selbstakzeptanz keine Regeln und Kategorien kennen sollten.
Die Meinungen der Gesellschaft bezüglich des idealen Körpers prasseln erneut als Audiospur herab wie unbarmherziger Regen, Sätze, die viele schon oft gehört haben, ein Stimmengewirr von Menschen, die ihre Bewertungen ablassen: „Du warst immer so dürr“, „Spaghettibeine“, „Pass auf dass du nicht wegfliegst“, „Hast du es schon mit der Null Kohlenhydrate Diät probiert?“, „Du musst dich nur gesünder ernähren und mehr bewegen“. Lukas Schneider sitzt auf dem Boden, ein Tape Band kommt von oben herunter, mit dem er sein Bauchfett abklebt bzw einquetscht. Dann posiert er, Kamerablitz-Flashlight und das Auslösergeräusch ertönen unablässig hintereinander. Es wirkt wie das ständige Blicken-Ausgesetztsein, das ständige Performen und sich bestmöglich in Szene setzen müssen.
Die Inszenierung zeigt vor allem ein Ausprobieren, wie der Körper wahrgenommen wird oder werden könnte, wenn er sich von Erwartungen und Idealen löst und entfernt. Oftmals wirken Handlungen wie ein Demonstrieren von Befreiung, die bewirkt, dass der Körper gezeigt werden kann und sollte, wie er ist. So löst Lukas Schneider das Klebeband wieder ab und tanzt einen befreienden, ausholenden Tanz. Er zeigt, zu was sein Körper trotz Unperfektheit und Nonkonformität mit dem gesellschaftlichen Idealbild fähig ist: Er macht immer wieder eine Art Rückwärtsrolle, bei der er auf dem Bauch aufschlägt, er tanzt, macht Boxbewegungen vorm Spiegel, Yogaelemente und einen Spagat. Danach erzeugt er Musik, genauer gesagt Percussion, durch Klatschen auf seinen Körper, auf sein Bauchfett. Sein Bauch wird schließlich selbst zur Figur, er schmatzt, wirft Küsse zu, er spricht und singt. Das Ermächtigen des eigenen Körpers wird durch all jene Handlungen deutlich, sich dem eigenen Körper bewusst werden in all den Dingen, die er kann und ist oder noch sein kann, wenn Echtheit, Offenheit und Mut gewagt werden.
Im Nachgespräch erzählt Schneider, dass es ihm in der Arbeit über Körperbilder hilft, dass eine Figur oder Puppe Dinge tun kann, die ein Mensch mit dem eigenen Körper nicht tun kann, zum Beispiel nur noch Haut sein, leer und federleicht sein ohne Knochen, so wie die schwebende Puppe in seiner Inszenierung, der die Substanz entnommen wurde. Mit Puppen kann ein Skalawechsel vollzogen werden, von klein zu groß, der Körper kann verändert und geformt und benutzt werden. Lukas Schneider präsentiert einen mutigen und ehrlichen Umgang mit dem eigenen Körper, der befreit von Scham und Stereotypen als neuer Maßstab und als Werkzeug genutzt wird, um einen Raum zu schaffen und zu inszenieren, der sich gegen den Drang nach Perfektion und Bewertung richtet, gegen Kategorien und Schubladen. Schneider erforscht den Blick der Gesellschaft auf fremde Körper kritisch und kreativ. Durch mehrere Ebenen der Auseinandersetzung wird das Thema des Körpers sowohl in seiner privaten und persönlichen, als auch in seiner gesellschaftlichen und öffentlichen Konnotation deutlich. In allen im Stück vollzogenen Handlungen wird das Spannungsverhältnis ersichtlich zwischen dem eigenen Selbst und der Gesellschaft, dem jüngeren und dem älteren Ich, der Norm und der Abweichung davon, dem Selbstbild und dem Fremdbild.
Was hinter dem Vorhang mit der kleinen Puppe passiert, ist für Schneider die zweite Backstage-Ebene, dort, wo intimere Gedanken und eine Auseinandersetzung mit dem jüngeren Ich stattfinden. Schneider baut dabei ebenso geschickt die Geräuschkulisse eines Pausenhofs mit Kindern ein, um klanglich zu untermauern, dass es vor allem in der Kindheit schwerfällt, sich mit seinem Körper zu arrangieren und einzuleben, schon im Kindesalter finden erste Bewertungen statt, der Arzt setzt erste Maßstäbe, zieht den BMI zur Rate, wir werden andauernd kategorisiert, eingeordnet, bewertet, beobachtet. Vor dem Vorhang allerdings ist es für Lukas Schneider gegenwärtig, live, real, on stage: Er präsentiert sich und seine Queerness offen und ehrlich und ohne Scham, er ist angekommen, in seiner Identität, in seinem Körper und teilt dies mit dem Publikum. Nicht nur als Privatperson, nicht nur als Künstler, sondern auch als Gründer von einem Nährboden und einem Raum für ein neues Selbstverständnis. Er bewegt, erleichtert, erweitert den (Körper-)Horizont. Berührt Körper und Seelen sowie den Verstand.
Foto: Hannah Gottschalk