Die aktuelle Kritik

Puppentheater Magdeburg: „Schonzeit“

Von Klaus-Peter Voigt

Eine modernisierte Märchenwelt kommt im Magdeburger Puppentheater auf die Bühne. Noch kurz vor der erneuten coronabedingten Schließung des Hauses erlebte das Volksstück „Schonzeit“ des österreichischen Autors Andreas Jungwirth seine Premiere. Der uralte Stoff des „Rotkäppchens“ bildete für die unkonventionelle Inszenierung den gedanklichen Hintergrund.

Von der Vorlage muss sich der Zuschauer umgehend verabschieden. Für ihn entfaltet sich dafür ein Bilderbogen unterschiedlicher Ebenen, Handlungsstränge verschmelzen zu einer Geschichte, bei der Jungwirth fabuliert, Beziehungen zwischen den Personen - korrekt gesagt und dem Wolf – entwickelt er mit einer unbändigen Lust am Verändern, schafft Konstellationen, die für Überraschungseffekte sorgen.

Ausgangspunkt ist die Schonzeit, die den grauen Räuber 100 Tage lang in Sicherheit wiegen lässt. Kein Jäger darf ihm Nachstellen. In dieser Situation brechen alte Konflikte auf, treten merkwürdige Verbindungen ans Tageslicht. In der Dorfkneipe dreht sich eine Diskokugel. Glimmer und Glanz halten nur kurze Zeit. Die Akteure streifen sich weiße Kleider über, die an Großmutters Hochzeitskleid erinnern wollen. Ihr blassen Kalkgesichter lassen einen Moment brechtsche Anmutung versprühen. Dann beginnt das turbulente Spiel, das Linda Mattern, Anna Wiesemeier, Richard Barborka und Leonhard Schubert fordert, sie mitunter bis an die Grenzen des Leistbaren zu bringen scheint. Rasante Rollenwechsel, eine gekonnte Puppenführung und stellenweise ein atemberaubendes Tempo gehören dazu.

Nis Søgaard reizt alle Möglichkeiten dieser „Schonzeit“ aus, bei der Rotkäppchen nicht einmal eine eigene Puppe bekommt, dessen Name unausgesprochen bleibt. Ihm gelingt die Verknüpfung der zahlreichen Verbindungen zu einem regelrechten Drama mit überraschenden Wendungen. Der ständige Wechsel zwischen Puppen- und Schauspiel gehört dazu. Die Musik von Filip Nikolic passt punktgenau, begleitet oder steht bei einigen Szenen im Mittelpunkt. Mit den beeindruckenden Bildern des Dänen Simon Bukhave entstehen Wald und Lichtung, mal schlich in schwarz-weiß, dann wieder farbig unterlegt, ganz modern schaffen die Lichtinstallationen auf unterschiedlichen Flächen Atmosphäre.

Die Handlung fordert den Zuschauer, will er den Überblick behalten. Da ist die Mutter, die in der Kneipe gesteht, ihr „Kind“ gar nicht gewollt zu haben. Und sie hat es belogen. Keinesfalls soll es erfahren, dass der Vater im Wald von einem Baum erschlagen wurde. Dort, in einem einfachen Wohnwagen, hat die Großmutter ihr Domizil aufgeschlagen. Und eine Art Freundschaft verbindet sie mit dem Wolf, der bei ihr regelmäßig Fleisch zu Fressen bekommt. Nun in der Schonzeit hat er sein Leben satt, möchte wie der Hund an der Kette im Dorf gehalten werden, ohne Gefahr, ohne Risiko. Die beeindruckende Puppe zeigt ihn ohne Pelz, mit langen Fingernägeln, in Unterhose, gibt ihn so ein stückweit der Lächerlichkeit preis. Durch einen Tausch, der sich als Betrug herausstellt, hat er die Flinte des Jägers in seinen Besitz bekommen, sinn- und nutzlos ist die Waffe, denn der hatte gerade die letzte Kugel verschossen, weil auch für ihn der Wunsch nach dem Ruhestand groß geworden ist. Doch alles nimmt seinen Lauf. Das Mädchen geht in den Wald, will das Schicksal ihres Vaters klären, findet dort nur dessen Grabstein.

Am Ende wird das Verwirrspiel um die Beziehungen und Wünsche von Jäger, Mutter, Wolf, Großmutter und Mädchen zu einem schaurigen Finale mitten im Wald. Ihre Suche nach Freiheit und ein wenige Selbstbestimmung bleibt letztlich erfolglos. Natürlich labt sich der Wolf – der nicht imstande ist seine Natur aufzugeben – an Großmutter und Mädchen. Blutig wird hingemetzelt, die Bühne und die Akteure agieren im roten Lebenssaft. Von dem kommt ein wenig zu viel zum Einsatz. Das in sich anspruchsvolle und schlüssig inszenierte Stück hätte eine solche Orgie, eine Überhöhung des Endes kaum gebraucht. Manchmal scheint weniger mehr zu sein.  

 

Premiere: 29.10.2020

 

REGIE Nis Søgaard
BÜHNE Nis Søgaard, Simon Bukhave
PUPPENFIGURINEN Simon Bukhave
PUPPENBAU Lili Laube MUSIK Filip Nikolic
DRAMATURGIE Petra Szemacha
SPIEL Linda Mattern, Anna Wiesemeier, Richard Barborka, Leonhard Schubert

 

Foto: Viktoria Kühne

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