Die aktuelle Kritik

T-Werk Potsdam: "Unidram"

Von Katja Kollmann

In Potsdam zeigt das Festival „Unidram“ in seiner dreißigsten Jubiläumsausgabe intime Zeitporträts aus Tschechien und Spanien/Mexiko, während die russischen Performer von AKHE auf grobe Effekte setzen.

9. Dezember 2024

Ein Finger geht durch die Stadt. Dominik Migač lotst ihn durch den lärmenden unsichtbaren Verkehr zwischen den Häusern. Sechs Zuschauer:innen sitzen vor einem Tisch. Darauf kubusartige bräunliche Elemente. An der Seite eine Lampe. Von dort stülpt sich ein hörspielartiger Klangteppich über die Szenerie. Hinterm Tisch sitzt Migač mit einer primitiven Maske aus Pappkarton vorm Gesicht und lässt seinen Finger einen Tag im Realsozialismus durchleben. Er baut, während sein Protagonist durch den Tag navigiert, die Betonwürfel immer wieder um. So entblößen sie zum Beispiel Treppen, die der Finger emporschnauft, als der Aufzug ausgefallen ist. Oder Nischen, in die dann ein drei Zentimeter großer Fernsehapparat passt. Von der Körperhaltung des Fingers ausgehend, setzt sich vorm inneren Auge das Bild eines spießigen, gleichzeitig ziemlich schrulligen Mittvierzigers zusammen.

"Prefaby": Dominik Migač © Jakub Maksymov

Jetzt schaut man von oben ins Haus und lernt eine ganze Etage kennen. Mit minimalistischer und gleichzeitig dezidierter Fingerführung entwirft der tschechische Schauspieler drei ganz unterschiedliche Nachbarn, die sich gegenseitig auf die Nerven gehen und einem vertraut werden. Die begleitende Klangcollage lässt Türen knallen, Klingeln läuten, den Fahrstuhl anfahren und auch Münder aufeinander treffen. In den Zimmern und im Treppenhaus werden dazu Mikrolampen aus- und eingeschaltet. Das innere Auge entwirft parallel dazu einen spannenden Mikrokosmos im Plattenbau. Mit extrem wenig Mitteln wird hier ein langer intimer Theater-Moment generiert, der in jeder seiner Gesten Leichtigkeit transportiert. Aber in der Erzählung vom Alltag des modernen Großstadtmenschen im letzten Jahrzehnt des realexistierenden Sozialismus steckt auch die Erzählung von der Errungenschaft modernen Wohnungsbaus in den sozialistischen Ländern. Und darin verwoben der Preis, den vor allem Menschen in der Ukraine und Belarus dafür bezahlten. So wird am Schluss von „Prefaby“, der Abschlussarbeit von Migač und Jakub Maksymov an der Academy of Performing Arts in Prag, ein Werbespot eingespielt, der in den 70er Jahren für eine Ansiedlung in der sowjetischen Musterstadt Prypjat wirbt, die unweit vom zeitgleich gebauten Atomkraftwerk in Tschernobyl errichtet wurde. Sofort fluten Bilder vom Reaktorunfall und seinen Folgen das Hirn. Die gerade noch produzierte Leichtigkeit bekommt jetzt eine bittere Note, die bleibt. 

"Utopia" © Taya Ovod

Vierzehn Inszenierungen aus dreizehn Ländern hat sich Unidram zum dreißigsten Geburtstag geschenkt. Seit 1994 hat sich das Potsdamer Off-Festival visuellen Theaterformen verschrieben und bewusst die eingeladen, die die Grenzen zwischen den Theaterdisziplinen überschreiten. Und so war hier schon immer Raum für Figuren- und Objektheater.

Maxim Isaev, Nik Khamov und Pavel Semchenko vom russischen Performance-Kollektiv AKHE bedienen sich mit vollen Händen im Objekt- und Materialfundus. Die drei haben sich der Grobmotorik verschrieben und so wird die 60-Minuten-Performance eine wilde Sause. Man pinnt sich an ein Brett, Wasser flutet Bühne und Performer, Kartons werden wild aufgerissen, ein ca. drei x drei Meter großes Brett wird von den Performern an Seilen nach oben und unten gezogen. Unheilschwangere Instrumentalmusik begleitet die ganze Aktion, „Utopia“ genannt. Was hier aber entworfen wird, ist eine Dystopia, denn zentral sind die Bilder von Unfreiheit, die im Laufe der Performance „zusammengebaut“ werden. Was das Zuschauen leider anstrengend macht und den Tableaus ihre Dringlichkeit nimmt, ist die behauptete Bedeutungsschwere, die die Performer in jeder ihrer Bewegungen vor sich hertragen.  

"Die Melancholie des Touristen" © Shaday Larios

Oligor y Microscopia holen einen wieder zurück in den Mikrokosmos. Die ausgewiesenen Spezialisten für intimes Theater und sehr kleine Objekte haben für „Die Melancholie des Touristen“ alte Dia-Projektoren zu einem beeindruckenden Turmensemble aufgebaut. Das Publikum wird in ein aufsteigendes Mini-Halbrund vor einer winzigen Bühne platziert. Dahinter „arbeitet“ der Projektorenturm, dessen „Schnaufen“ einen sanft in eine andere Zeit mitnimmt. Eine Seilbahn mit alten Urlaubs-Postkarten schwebt über den Köpfen der Zuschauer:innen. Kleine Plastikfiguren fesseln den Blick, werden auf Drehteller gestellt. Sensibel beleuchtet, stehen sie plötzlich im Zentrum. Mit historischen Mikroobjekten, Dias, Fotos und Postkarten erzählen Shaday Larios und Jomi Oligor die Geschichte von zwei Menschen in Lateinamerika, die ab den 1950er Jahren in Kontakt mit Touristen kommen. Eine rauchende Frau in Havanna wird zum beliebten Fotomotiv, ein junger Mann aus Acapulco hat ein schmales Auskommen, weil er täglich sein Leben riskiert, indem er von extrem hohen Klippen springt und dafür von den Touristen bezahlt wird.

Die Erzählung des spanisch-mexikanischen Duos hat eine beglückende organische Dramaturgie. Sie schaffen es, rasant die Objekte zu wechseln, auf verschiedenen Mikroebenen zu spielen und von Anfang an eine Atmosphäre der Entschleunigung zu erzeugen. Das Objekt-Dokumentartheater ist auch inhaltlich stark, weil es über den Fokus auf zwei reale Lebensbilder den Blick auf den Touristen als Typus lenkt und auf dessen bewusst-unbewusste Nichtwahrnehmung von Lebensrealität am Urlaubsort. Der realsozialistische Mensch-Finger aus „Prefaby“ hingegen hat das Abenteuer jeden Tag vor der Haustür, wenn sein Hund ihn durch die Straßen zerrt.

"Nach uns die Zukunft", der Titel der Schweizer Eröffnungsproduktion, wurde zum inoffiziellen Motto des Jubiläums-Festivals und lädt zum In-die-Zukunft-Denken ein: Wer bzw. was ist 2054 Theater-Avantgarde und kommt zum 60. Festival-Geburtstag?


T-Werk Potsdam: "Unidram"

4.-8. November 2024

Infos auf der Unidram-Website

Besprochene Produktionen:

Prefaby von Dominik Migač und Jakub Maksymov | Utopia von AKHE | Die Melancholie des Touristen von Oligor y Microscopia

Titelfoto: "Prefaby" © Jakub Maksymov