Essays

KIP\|/ _PEN // KIPPEN - Balanceakte der Gegenwart

Ein Text zur Be/Fragung und Er/Schreibung, erprobt als forschende An/Näherung und Such/Bewegung

Von Jessica Hölzl

9. Juli 2024

 

Auf einer fast leeren Bühne eröffnet Li Kemme den Premierenabend mit einer eindrucksvollen Vorstellung der Verlebendigung des eigenen Körpers. Mit einfachsten Mitteln der Animation, der Fragmentierung und Manipulation, die handwerklich präzise zusammengefügt werden, skizziert Li Kemme die Menschwerdung im Zeitraffer der Evolutionsgeschichte und überträgt den figurentheatralen Animationsprozess zugleich auf den eigenen Körper. Zum Ende der performativen Subjektwerdung lächelt der:die Spieler:in ins Publikum: Schön, dass ihr alle da seid. Hell ausgeleuchtet bleibt der Raum zunächst offen, wir alle sind gemeint, wir werden das hier gemeinsam bis zum Ende durchziehen.


„Es gibt ein Davor.“
 

KIP\|/ _PEN. Das Inszenierungsprojekt reicht zurück bis ins Jahr 2022, als Li Kemme sich im Rahmen eines Recherchestipendiums in eine forschende Auseinandersetzung begab. Ausgestattet mit Zeit und der Möglichkeit, sich intensiv mit noch unkonkreten Fragestellungen zu befassen und diesen im Detail nachzugehen, nahm die Auseinandersetzung mit Endlichkeit und Fortgang der Dinge im Laufe der Recherche im Motiv des Kippens Konturen an. Was heißt Kippen? Physikalisch? Materiell? Kausal? Wo kann etwas kippen? Sozial? Gesellschaftlich? Global? Wie funktioniert dieses Kippen? Bezogen auf Klima, Geld, Stimmung, eine Schaukel und Ökosystem? Welche berühmten Kippfiguren prägen die Geschichte/n? Und wie lässt sich eine solche Figur als materialtheatrale Anordnung denken?

Experimentalsettings aus kleinen Apparaturen, die bereits in Li Kemmes Arbeit Echo of an End (2019) eine zentrale Rolle spielen, durchziehen die Inszenierung, kleine aufgespannte Hebel warten auf das Zurückschnellen, ein Miniaturstuhl kippt, eine Eieruhr schellt. Die Versuchsanordnungen werden begleitet von unterschiedlichsten Überlegungen, die mal live, mal über Bluetoothboxen eingespielt, vielfältige Kontexte ins Spiel bringen. Zwischen lauter Bla bla wird plötzlich „ein Satz von Gewicht gesprochen“ – die Stimmung, die Situation, der Moment kippt. Wie lange braucht eine Gesellschaft für einen Wertewandel – und lässt sich das mit Dominosteinen ausdrücken?

KIPPEN beruht auf einem zeit- und arbeitsintensiven Probenprozess und das wird auf der Bühne in den um verschiedene Motive, Zitate und Figuren gebauten Szenen sehr deutlich. Gut durchdacht und mit großer Präzision werden die inhaltlichen Sprünge und assoziativen Übergänge zwischen Kippmomenten, Kippfiguren und Kippbewegungen textuell, spielerisch und im Umgang mit dem Material dramaturgisch zusammengehalten, ohne auszufransen oder an Logik zu verlieren. Nach der ersten Recherchephase Li Kemmes kam zunächst Sandra Bringer als Dramaturgin zur Inszenierungsarbeit dazu, außerdem Franz Schrörs in der Position der Regie und Judith Engel als Autorin:

„Wir haben thematisch kategorisiert, gesichtet, viel Lust an Motiven und Mechanismen entwickelt […]. Schließlich haben wir […] das KIPPEN weitergedacht, andere mediale Beispiele gesucht und an einem WARUM gebastelt: Warum sollte in einem geschlossenen Bühnenraum mit performativen Verabredungen zwischen Performer:in und Publikum davon ein Erleben stattfinden? Eine Recherche führt raus auf die Felder, in die Bubbles und wieder heraus – man macht sich Vorstellungen und Begrifflichkeiten, Gesetzmäßigkeiten und übt den Spiegelsprung von einer Disziplin in tausend andere. Ein Erprobungsprozess wiederum hat andere Bedingungen an eine Exploration – dieser muss sichtbar haptische und irgendwie ‚performende‘ Ergebnisse hervorbringen und dann auch noch in Vorgänge eingebettet werden, die für viele nachvollziehbar sind. Also zwei verschiedene Methoden des Recherchierens, die aber aufeinander aufbauen können – ein Stipendium ist vor allem ein Geschenk an Zeit – ohne diese wäre KIPPEN etwas völlig anderes geworden.“1


KIP\|/ _PEN // KIPPEN“: Li Kemme © Gala Goebel


„Es gibt ein Davor und es gibt ein Danach, aber meistens ist es komplexer.“
 

Zeit, eine intensive Recherchephase, ein umfangreicher Probenprozess, die Möglichkeiten kollektiven Arbeitens – KIPPEN verdeutlicht die Produktivität entschleunigter künstlerischer Forschungsprozesse. Mit großer Geschwindigkeit mal irritierend, mal komisch und dann wieder durchaus gewichtig verbindet die Inszenierung unterschiedliche Auslegungsmöglichkeiten, Motive und Themen rund ums KIPPEN. Gesellschaftliche, soziale und ökologische Entwicklungen sind Dreh- und Angelpunkt möglicher Kippmomente, die der assoziativ wuchernde Text von Judith Engel erfahrbar werden lässt. Dabei funktionieren Text und Spiel in einem verzahnten Nebeneinander, die Elemente stehen für sich und reichern einander zugleich an, wenn zur sprachlichen Landschaft materielle Erprobungen mit großer Präzision umgesetzt werden. Als „eine theatrale Anordnung zwischen Labor, Baustelle und Spielplatz“2 verschneidet KIPPEN Zitate und O-Töne, verschachtelt Konstellationen und verbindet unterschiedliche Orte durch Bewegungen. Auf der Suche nach dem KIPPEN als solchem produzieren materielle Verselbständigungen immer neuen Nervenkitzel, aber auch Spaß und verblüffende Effekte. So erzählt Li Kemme die Umsiedlung eines Froschs anhand einer liebevoll aufgebauten Miniaturlandschaft aus Bäumen und Teich, die von Plastikbaggern zerstört und an deren Stelle eine Wohngegend samt Carport und Einfamilienhaushecke errichtet wird. Der aus der Bluetoothbox quakende Frosch wird kurzerhand in die Kühlbox gepackt, da quakt er noch immer, aber immerhin leiser. Sofort stellt sich die Frage: Wer wohnt in diesen Wohnungen und was sind das für Leute? Machen die ‚mähfreien‘ Mai‘? Wie halten sieʼs mit der Mittagsruhe? Und wie sehen die das mit den Geflüchteten im Ort? Insektensterben, Rechtsruck und die Frage nach der eigenen Verortung im Mittelstand ziehen sich motivisch durch die Inszenierung und lösen sprachliche und materielle Kaskaden mit unzähligen Kippmomenten aus.


Zwischen den Eindeutigkeiten liegt ein Kippmoment.
 

KIP\|/ _PEN. Ich habe KIPPEN nicht unvoreingenommen erlebt. Vor der Premiere sah ich die Generalprobe. Zudem feierte die Inszenierung gleich zwei Premieren, zunächst im Westflügel Leipzig, dann am FiTZ Stuttgart in den Räumlichkeiten des Kulturareals Unterm Turm. Zwei Abende erprobten KIPPEN in zwei sehr unterschiedlichen Räumen vor, während und nach der Sommerhitze, in dem einen eröffneten sich im Schattenspiel ganz neue Dimensionen, im anderen erschloss sich die Laborsituation der Inszenierung sofort. Die Wechselwirkungen zwischen Raum und Bewegung, die sich im KIPPEN niederschlagen, haben über interessante Umwege auch meinen Körper erfasst. Die Schreibweise KIP\|/ _PEN löste bei mir eine Kopfbewegung aus, die nach dem KIP über die Schräge eine Schwerpunktverlagerung des Kopfes zur rechten Schulter bewirkt, der Kopf sich aber zum | abrupt wieder aufrichtet, um dann sanft nach links zu kippen. Der Titel der Inszenierung schrieb sich mir physisch als Bewegung ein, die ich kaum merklich wiederholte. Als ich den Programmzettel am Kassenhäuschen des Westflügel Leipzig in der Hand hielt, variierte mein Körper die Bewegung entlang der Schriftsetzung KIPPEN, wobei die Buchstaben ähnlich wie Treppenstufen nach rechts unten laufen. Wo das E nach oben ausschert, kippt mein Kopf kurz nach links, um dann den Abstieg nach rechts weiterzuverfolgen. Ich wiederholte diese Bewegung in Stuttgart etwa eine Woche später in sehr ähnlicher Weise.

 

KIP\|/ _PEN // KIPPEN“: Li Kemme © Gala Goebel


„Es gibt ein Davor und ein Danach. Und es gibt ein Dazwischen.“
 

KIP\|/ _PEN. Den besonderen Reiz der Inszenierung macht das Oszillieren zwischen Bedeuten und Kontextualisieren einerseits und Zeigen und Materialisieren andererseits aus sowie die gekonnten Verbindungen und Übergänge dazwischen, die figurentheatrale Spielweisen ermöglichen. Im Luftballonaufpusten heben sich die Kräfte auf, ein Herz entsteht, die Luft strömt zurück in die Spielperson, Körper und Objekt verbinden sich durch den Atem. Die Schaukel wird bei Li Kemme zum Dingmotiv, physikalischen Untersuchungsobjekt und Erfahrungsraum des Kippmoments. Diskursiv und physisch stellt sich immer wieder die Frage: Wie kann man KIPPEN sichtbar machen? Durch Vergrößerung? Mit Hilfsmitteln? Kaum ist es gekippt, ist das KIPPEN selbst auch schon vorbei. Habʼ ich den Moment verpasst?

 

Die grafische Umsetzung des Titels hat bei mir Verbindungen zu Gewusstem, Bekanntem, Vorgedachtem hergestellt.
Schon im Titel KIP\|/ _PEN visualisiert sich die Bewegung mit den Möglichkeiten schriftsprachlicher Zeichen. Als Theaterwissenschaftlerin habe ich zudem ein besonderes Verhältnis zum hier eingesetzten Schrägstrich. In Karen Barads Auseinandersetzung mit Funktions- und Wirkweisen von Vorgängen der Differenz/ierung verweist er auf die Praxis des „cutting together/apart (one move)“. Diese Bewegung beschreibt die grundsätzliche relationale Verschränktheit von Wirklichkeit, wobei die Figur des Trennens immer auch einen Kontaktpunkt, eine Berührung, eine Materialisierung der Vorgänge von Trennung und Verbindung produziert. Im Schrägstrich drückt sich eine Art Zusammenschnitt aus, der die Verstrickung in und wechselseitige Bedingtheit und situative Konstruktion von Subjekt- und Objektpositionen, Vergangenheit und Zukunft, Bedeutungszuschreibung und Materialität sichtbar werden lässt.3 Das Zusammendenken differenziell geschiedener Pole basiert auf spannenden Vorgeschichten und erfährt bis in die Gegenwart bedeutsame Fortwirkungen in (queer-)feministischen und postkolonialen Theorien sowie in Diskursen zum Verhältnis von Menschlichem und Nichtmenschlichem.4 In diesem Sinne passen KIPPEN und Schrägstrich als Verbindung zwischen Vorher und Nachher, Schnittstelle von Endlichkeit mit Fortgang gut zusammen. Es geht um genau diesen Kontakt, diesen Schnitt, dieses eine Moment der Schwerelosigkeit, das, sobald die Bewegung hier ankommt, schon wieder vorüber ist.


„Und manchmal kann man dieses Dazwischen ein kleines bisschen ausdehnen.“
 

Wie groß kann dieser Zwischenraum werden? Kann sich der Mensch als stets Werdendes begreifen? Kann man den Zwischenstrich ausdehnen? Wird die Zeitspanne, in der der Papierflieger beinah schwerelos schwebt, der Zeitraum, in dem die Schaukel am Wendepunkt kurz still steht, wird dieser Zwischenraum dann zur Fläche, die ein Ort sein kann? Wohnt hier die Utopie?

„Wir denken alle Dinge mit ihrem Ende, mit ihrem Zuendegehen. Wir sind selbst am Ende. Es gibt jedoch eine Möglichkeit weiter zu machen – weiter zu denken. Diese besteht im Schweben, im Kreisen aufschwingend, im Auflösen fester Dinge in Flüssige, im Umdrehen und schaumig machen – bevor es wieder fest wird. EIN ICH in Auflösung wird zu vielen WIRS – ZEIT UND RAUM bestimmen heute Abend, während dieser Veranstaltung hier das WIR. Ich ist (mit)verantwortlich für ein Haus. Ein Haus, das das ICH weder selbst baute, noch dass es ICH Schutz bot. Es muss transformiert werden, KIPPEN gehört dazu.“5

Am Ende sitzen alle gemeinsam im Licht vor der Bühne. Es gibt keine abschließenden Antworten. Wir sind Teil des Systems, unsere Perspektive, unser Handeln, unsere Bewegung ist ausschlaggebend. Auf dem Weg nach Hause kippt mein Kopf leicht nach rechts, ich denke an Un/Gleichzeitigkeiten, Papierfliegerfalttechniken und die Möglichkeit unendlichen Formwandels.

 

1 Interview mit Sandra Bringer, Dramaturgin

2 https://likemme.de/kippen/

3 Karen Barad: Intra-active Entanglements – An Interview with Karen Barad« von Malou Juelskjær und Nete Schwennesen. In: Kvinder, Køn og forskning/Women, Gender and Research. Copenhagen, 1(2) 2012a, S. 10–24, hier S. 16

4 Weiterführend zu Barad: Karen Barad: Meeting the Universe Halfway: Quantum Physics and the Entanglement of Matter and
Meaning. Durham u.a.: Duke University Press 2007; Überblick zu Neuen Materialismustheorien: Diana Coole, Samantha Frost (Hrsg.): New Materialisms: Ontology, Agency, and Politics.
Durham u.a.: Duke University Press 2010; Zum Schrägstrich als künstlerisch-wissenschaftliche Praxis: Jana Seehusen: mit mehr als einer stimme – eigen und fremd. In: Jamila Arenz/Veronika Darian/Jessica Hölzl (Hrsg.): RE/VERSIONEN. Künstlerische und wissenschaftliche Verfahren der Un/Eindeutigkeit. Berlin: Neofelis 2024, S. 45–49; Rose Marie Beck: Weiß/sein. In: Ebd., S. 115–119.

5 Aus dem Inszenierungstext von Judith Engel

 


Li Kemme, Westflügel Leipzig, FITZ Stuttgart: KIP\|/ _PEN // KIPPEN

Spiel, Ausstattung und Idee: Li Kemme | Dramaturgie: Sandra Bringer | Text: Judith Engel | Regie: Franz Schrörs | Künstlerische Betreuung: Tim Spooner | Voicecoaching: Gwen Kyrg | Beratung Lichtdesign: Jan Jedenak und Stefan Wenzel | Grafik Plakat: Lukas Eggert (Stuttgart)

Premiere: 21. Juni 2024 (Westflügel Leipzig) / 29. Juni (FITZ Stuttgart)
Dauer: ca. 60 Minuten

Spieltermine auf der Website von Li Kemme

Vorgestellt: Li Kemme

Der Essay wurde in einer kürzeren Version auch als Kritik veröffentlicht.

 

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