Staatstheater Augsburg & Augsburger Puppenkiste: "Der Sandmann"
16. Oktober 2024
Es hätte kaum ein besseres Material geben können, um es als VR-Theater in Szene zu setzen. Denn ähnlich wie in E.T.A. Hoffmanns Erzählung verkauft uns das Staatstheater Augsburg ein Okular, wodurch sich unsere Wirklichkeit verändern soll. Ein Bürostuhl, ein Paar Kopfhörer und natürlich das merkwürdige Okular in Form einer VR-Brille - mehr braucht es nicht, um die Zuschauer*innen binnen Sekunden aus dem heimischen Wohnzimmer in die schaurige Welt des Sandmanns zu entführen.
Die dunkle, unheilvolle Stimme von Mechthild Großmann erzählt die Geschichte vom jungen Nathanael (Julius Kuhn), der eigentlich glücklich mit seiner Verlobten Clara (Katja Sieder) zusammen sein sollte. Doch er wird von seiner traumatischen Kindheit verfolgt: Sein Vater (Stimme: Klaus Müller, Puppenspiel: Stefan Schmieder) starb bei einem Unfall und Nathanael ist der festen Überzeugung, dass der fadenscheinige Advokat Coppelius (Stefan Schmieder) an der Sache beteiligt war und, noch schlimmer, die Verkörperung des Augen-ausreißenden Sandmanns sei, von dem ihm seine Mutter oft erzählte. Jahre später begegnet ihm der Wetterglashändler Coppola (Stefan Schmieder), der immer wieder „Sköne Oke“ sagt und in Nathanaels Augen Coppelius mehr als nur ähnlich sieht. Er verkauft ihm eine rosarote Brille, durch die Nathanael im Fenster des Professor Spalanzani (Andreas Ströbel) die schöne Olimpia (Katja Sieder, Puppenspiel: Andreas Ströbel) erblickt und sich in sie verliebt, mit fatalen Folgen…
"Der Sandmann": (v.l.n.r.) Katja Sieder, Julius Kuhn, Stefan Schmieder, Andreas Ströbl © Jan-Pieter Fuhr
Die Zuschauenden verfolgen das Geschehen immer vom Mittelpunkt eines runden Bühnenraumes aus, der von weißen Vorhängen umschlossen ist. Die Inszenierung setzt immer wieder Fokuspunkte durch Bühnenbild (Amelie Seeger) und Spiel, es lohnt sich aber als Zuschauer*in, den gesamten Raum zu betrachten und sich keine Details entgehen zu lassen. Von der Decke hängen wie von Marionettenfäden übergroße Schreibfedern, Briefe und Brillen aus Pappe, die die Spieler*innen nutzen, wodurch sie selbst in Relation dazu puppenhaft wirken.
Die Augsburger Puppenkiste liefert in bekannter Manier ihre Marionetten, die im Stück Nathanaels Vater und Olimpia darstellen. Letztere Entscheidung wirkt angesichts Olimpias wahrer Beschaffenheit logisch, ebenso wie die Präsentation ihrer Figur in einer hölzernen Guckkasten-Bühne, die aber sonst im Stück nicht weiter bespielt wird. Dass Nathanaels Vater als Puppe verkörpert wird und im Stückverlauf immer wieder unbespielt im Raum zu finden ist, mag für die Omnipräsenz des Kindheitstraumas stehen, erscheint zwischenzeitlich aber eher irrelevant. Im Tanz mit Olimpia wird auch Nathanael zur Puppe, während die menschlichen Pendants im Hintergrund ebenfalls tanzen. Die Perspektive der Zuschauer*innen wechselt in dieser Sequenz auf die Höhe der Puppen. Dieser Effekt überrascht und ist interessant anzusehen, wird aber leider nur einmal eingesetzt.
Das Puppenspiel (Andreas Ströbl und Stefan Schmieder) ist ebenso wie das Schauspiel – auch der Puppenspieler – überzeugend. Allerdings können die Puppen nicht so sehr glänzen, wie in ihrem gewohnten Terrain, wobei der so ungewohnt ernste Stoff ihnen durchaus steht und Lust auf mehr macht. In der Inszenierung gehen sie leider neben der VR-Erfahrung ein wenig unter.
"Der Sandmann": (v.l.n.r.) Andreas Ströbl, Stefan Schmieder © Jan-Pieter Fuhr
Star der Show bleibt nämlich das Medium der VR-Brille, die in der hiesigen Theaterlandschaft trotz zahlreicher Digitalisierungsversuche zu Pandemiezeiten immer noch eine Besonderheit darstellt. Die VR-Brille ermöglicht es, die Zuschauer*innen mitten in das Geschehen zu bringen und somit so nah an die Inszenierung zu kommen wie sonst nicht einmal in der ersten Reihe. Gerade in einem Schauerstück lädt so eine Position durchaus dazu ein, mit billigen Tricks im Rücken des Publikums zu agieren. Zum Glück verzichtet Regisseur Florian Moch auf ebensolches. Stattdessen besticht die Inszenierung durch Klarheit und Reduktion in der virtuellen Welt.
Doch auch, wer noch nicht viele VR-Theaterstücke erleben durfte, mag erkennen, dass die Inszenierung an der Oberfläche des technisch-inszenatorisch Möglichen kratzt. So machen doch die Momente, in denen die Vorzüge des VR-Spiels zur Geltung kommen, wie der Perspektivwechsel, durch den die Zuschauer*innen selbst zur Puppe werden, oder direktes Anspiel in die Kamera durch die Schauspielenden, Spaß und überraschen.
Hätte die Inszenierung mehr dieser Vorteile ausspielen können, gerade mit dieser Geschichte, in der es ständig ums Sehen geht? Man stelle sich nur vor, mit den Puppen auf der Bühne zu stehen oder selbst zum Nathanael zu werden, der die rosarote Brille des Coppola trägt. Trotzdem macht „Der Sandmann“ Spaß und ist den VR-Ausflug im heimischen Wohnzimmer wert, auch wenn die Inszenierung noch Luft nach oben lässt.
Augsburger Staatstheater & Augsburger Puppenkiste: „Der Sandmann“
vr-theater@home, nach E.T.A. Hoffmann
Inszenierung, Textfassung & Puppenbau Florian Moch | Bühne & Kostüme Amelie Seeger | Musik Stefan Leibold | Dramaturgie Vera Gertz | Technische Realisation Benjamin Seuffert | Produktionsleitung Lukas Joshua Baueregger | Mit Katja Sieder, Julius Kuhn, Andreas Ströbl, Stefan Schmieder und den Stimmen von Klaus Müller und Mechthild Großmann
Premiere: 26. September 2024
Dauer: ca. 35 Min.
Ab: 15 Jahren
Infos und bestellbar auf der Website des Staatstheaters Augsburg